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Der Deutsche correspondent. [volume] (Baltimore, Md.) 1841-1918, December 31, 1892, Der Sonntags-Correspondent, Image 5

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52. Jahrgang.
Tos vergangene Hahr.
Der letzte Tag des Lahres,
Er ist gekommen !
Jahr, wie bist Du entfloh'»?
So ei!e» Stunden!
So eilt der stürzende Ltrom!
Und so eilt Teil! Leben!
Stunde» werden einst scheinen
Tie Jahre, die ? u gelebt hast.
O letzter Tag des Jahres !
Tu Bild des letzten des Ledens !
Lehr', o lehre mich,
Daß nicht mein Leben einst sei
Gestöhn und verschwunden,
Wie das verschwundene Zahr !
Du, oer die Tage mir zählt,
Der das Lebe» mir abwägt
Du nur weißt es,
Ob ein Jahrhundert
Oder od Ziunoen auf Deiner Waage mir
schieben?
Gieb mir Stunden!
Hab' ich sie Dir gelebt,
Sind sie mir ein Jahrhundert!
Und früher, früher sängt
Ta? bessere Leben
Meiner Seligkeit an !
Z>ie ungleichen Geschwister.
Ein Lebensbild von Maurus Jolai.
Die Umgcgend der ungarischen Haupt
stadt birgt einen Schatz, dessen sich keine
andere Stadt rühmen kann, von welchem
aber wohl selbst viele Einwohner Pest's
kaum eine Ahnung haben. Die an Ofen
grenzenden Hügel werden nämlich noch
von einem wirklichen Urwalde bedeckt,
so daß man tagelang in der Wildniß
umherirren kaun, ohne cin Zeichen,
weiches, de» Besitzer andeutet, zu finden.
Da sind tief einsame Thäler, welche von
der modernen Völkerwanderung noch
verschont blieben und deren Gebüsche
noch nicht mit den Papierhüllen der
Gänseviertclvollgcstrent wurden. Ouer
durch diesen Wald führt cin Weg, wel
cher nnr durch Kalkkreuze auf den
Stämmen der Bäume kenntlich ist.
Hier umfängt den Wanderer die Ruhe
eines Tempels ; nur die schwarze Amsel
mit ihrem pfeifenden Ton, der Schrei
des Nußhähers und das Klopfen des
Spechtes unterbrechen zuweilen die
Stille.
Das Thal heißt Maria Eichel. Bor
Zeiten wählte ein frommer Mönchsor
den, der Paulinenorden, den stillver
borgenen Ort zu andächtigem, einsied
lerischem Aufenthalte. Er baute dort
daS Kloster und legte die großen, präch
tigen Obstgärten nnd die andern Pflan
zungen an. Joseph 11., welcher die
Zahl der Orden sehr verminderte, hob
hob auch diesen auf, und so wurde das
Kloster mit dem Garten verauktionirt
und von einem Bndapester Schwaben
erstanden.
Der gegenwärtige Besitzer betrieb ei
ne große Milchwirthschaft und war un
ter dem Namen Meier Sepp bekannt.
Der Besitz war 50,000 Gulden werth
gewesen.
Wenn wir im Sommer d'raußen in
den schwäbischen Bergen wohnten,brach«
Samstag. Sen Ul. Te;emi>er
te uns die Fran des Meier Sepp, die
Midi, Anna, die Milch. Auch das
Brennholz kauften wir von den Leuten.
Dazu kam der Meier Sepp selbst mit
seinem Wagen. Obgleich dieser kein
Wort ungarisch konnte, war cr doch oh
ne Widerrede seinem glattrasirten,
bartlosen Gesicht zum Trotz cin cchtcr
Ungar.
Er war es auch, der, als cr '4B mit
der Oscncr Deputation vor Windifch
grätz trat, auf die Frage des mächtigen
Heerführers: „Welcher Gesinnung seid
Ihr?" antwortete: „Wir sind nur gu
ter Gesinnung, aber nnscrGcistlicher, ."
„Nun und dieser?"
„Das ist ein echtes, eingefleischtes
Schwarzgelb!"
Er wnrdc dafür zwei Wochen einge
sperrt zum großen Stolz der ganzen
Verwandtschaft, denn dazumal taxirte
man auf folgende Weife:
„Ein tüchtiger Mensch! Er war
auch schon 'mal eingesperrt!"
Bei jeder Begegnung versprach ich
dem Meier Sepp mit Handschlag, ihn
einmal mit meinem ganzen Hanse auf
feiner Meierei zn besuchen, und eines
schönen Tages hielten wir unser Ver
sprechen und machten uns anf den
Weg.
Meier Sepp hatte versprochen, uns
seinen Sohn losi auf halbem Wege ent
gegen zn schicken; am Normabanm soll
te er unS erwarten.
Pünktlich zur festgesetzten Stunde
waren wir daselbst angelangt. Wir
schienen zu zeitig gekommen zn sein,
denn an dem verabredeten Platze sahen
wir nur einen kleinen, kaum vicr Jahre
alten Knaben, welcher auS Hollunder
eine Pfeife schnitzte.
Derselbe kam artig grüßend auf uns
Zu
„Guten Tag, sind Sie die Gäste, die
nach Maria Eichel kommen wollen?"
fragte er.
„Ja, Kleiner, Das sind sie, wir war
ten auf Meier Sepp's Sohn."
Der kleine Mensch warf den Kopf zu
rück, brach die Hollunderpfeife mitten
durch und warf sie auf die Erde. „Meier
Sepp ist nur ein Spottname," sagte er,
„er heißt Groll Joseph, und ich bin
Groll losi, sein Sohn, und werde sie
nach Maria Eichel führen."
Es war reizend, wie dieser winzig
kleine Mensch mit selbstbewußtem Stolz
für die Ehre der Familie eintrat.
„Gott zum Gruß, Groll losi, also
Du sollst uns den Weg weisen? Hat
denn Dein Vater keinen größeren Sohn,
daß cr Dich schickt?"
„O ja, aber der fürchtet sich, allein
in den Wald zu gehen."
„Fürchtest Du Dich nicht?"
„Der Kleine machte große Augen: Vor
was denn fürchten?"
Mit diesen Worten ging er voran
und schritt mit seinen kleinen Beinchen
so aus, daß er mit den Erwachsenen
gleichen Tritt hielt.
Daß er ungarisch sprach, überraschle
mich bei seinen Reden am Meisten.
„Wo hast denn Du ungarisch ge
lernt? Weder Dein Vater, noch Deine
Mutter können ja cin Wort nngarisch."
„Sie schickten mich tauschweise nach
Ponnaz zn Ungarn."
„Und wann geschah Dies?"
„O, Das ist schon schr lange hcr."
„Schr lange? Du bist doch nicht
älter, als vicr Jahre!"
Als wir an eine über den Weg gebo
gene Buche gelaugten, blieb cr stchcn
und schantc sich »in, ob die Damen
weit zurückgeblieben wären, daß sie nicht
hören könnten, alsdann sagte cr in lei
sem Tone:
„Hier an diesem Baume hat sich in
Frühjahr der Sohn eines ungarischen
Grundbesitzers ausgeknüpst. Dort an
jenem herab gebogencn Astc saud ick,
ihn hängen."
„Da liesst Dn wohl schnell nach Han
se?'
„Nein, sondern zur Kristinstndnichcn
Hanptinannjchaft. Durch Maueran
schlag war das Vcrfchwiudcu des jun
gen Herrn angekündigt, nnd hundert
Gulden Belohnung wurden für sei»
Auffinden versprochen."
«Du bist ja cin Blitzjunge!"
Der verborgene Waldweg sührte in
cin aninuthigcs Thal, an dessen sansr
ansteigenden Sciten Külic wcidcteu.
Riescuhafte Nußbäume verdeckten das
Meierhaus, das chcmaligc Brüderkto
stcr.
Die Kühe hütete ei» kleines, blondes
Mädchen, welches, als co uns erblickte,
schnell herbei lief.
„Nun, Iosi!"
„Nun, Lisi!"
Mit diesen Worten begrüßten sie sich
gegenseitig, und nun begann ein Wett
lanf, wcr von ihnen zuerst die Ankuust
der Gäste im Hanse ankündigte. Der
kleine Kerl besiegte das große Mädchen,
diese war kanm bis zn den Nußbäumen
gekommen, als er schon wieder zn uns
zurückkehrte.
Die wackere Anna Midi wartete schon
vor der Thür auf uns. Weiter konnte
sie nicht kommen, denn sie knetete Teig
zu Kuchen sür nns. Groß war die
Freude der jungen Frau, daß wir sie
endlich besuchten.
„Der Hausherr wird auch bald kom
men," versicherte nns Fran Anna, „cr
ist mit seinem Sohne Toni dort unten
bei der Luzerne, sie rechen, Häuseln nnd
laden auf, aber sie werden gleich zu
Hause sein."
Und wie auf Befehl kamen sie eben
den Garten entlang gegangen.
Der Vater trug ans dem Rücken eine
ganze Mandel Luzerne, oben hinein
war die Sense gesteckt. Der Sohn hin
gegen brachte die Hengabel, den Rechen
und den Graskorb. Er war cin gro
ßer, langer Bursche; aber man sah,
daß diese Größe ihm eine Last war;
Hände, Füße nnd Kopf schienen ihm
im Wege zu sein.
Als sie sich dem Hause näherten, rief
Anna Midi dem Knaben zu: „Du lan
ger Lümmel, wie kannst Dn denn zuge
ben, daß der Bater daS Heu anf dem
Rücken schleppt!"
„Ach, Frau," beschwichtigte dcr!HauS
herr, „Da? schasst er ja noch nicht."
Sir. 11.
„Die Sensc hättest Tu doch tragen
können, Toni!"
„Habe ich denn drei Hände?" murrte
! dieser.
„Och', Tu Grobian, wärst Tu we
nigstens davon geeilt, wenn Tu Nichts
nutzen kannst, Du hättest mir reise Ar
sche» pslückcu können, ich warte schon
daraus, iinu geschwind, geschwind!"
! Toili sah saiil, mit nur halb gewen«
! detein Hals' zum Kirschbaum empor.
! „Er kö ntc uut.r mir zusammen bre
chen," ineilN' er. Damit wars er sich
aus das H u, welches sein Bater ge»
! bracht hatt^
! Da sprai j der kl-'ine losi hervor, er
i griff den Korb und ries:
i „Nun, so werde ich ans den Baum
> klettern."
> Mit Viesen Worten kletterte er ge-
schwind, wie ein Eichhörnchen auf die
I höchste spitze des Baumes. Unterdes
! sen suchte ich mit dem langen Jungen
! cin (Gespräch anzukilüpseu.
„Kannst Du denn ungarisch?"
Er schüttelte den Kops und grinste:
i „Noa."
„Gehst Du nicht in die Schule?"
Da lachte >r übermäßig: „O uoa."
Ter Batcr kam seinem Sohne zn
Hülse.
„Er ist nicht so alt,- wie er aussieht,
jer kann noch spielen. Jetzt zur Kuku
ruzerndte ivirL er zehn Jahre."
„Nun, ich hätte ihn ans sechszehn
i geschätzt."
„Ich glaub's, er wird cin Riese,
l Ich werde ihn sür Geld aus dem Jahr
markt zeigen können."
j Der kleine losi hatte unterdessen sei
! iien Korb mit Kirschen gefüllt und
brachte ihn der Mutter. Der ehrliche
Joseph zog ihn an sich, streichelte
seinen Kops und sagte mit einem so
wunderlichen fächeln, in welchem mehr
l Verlegenheit, als Stolz lag:
„Aber dieser kleine Wicht kann schon
! ungarisch und geht auch schon in die
! Schule. Nicht wahr, losi, Du kannst
! auch deklan'iren. Nuu zeige, was Du
gelernt hast."
Damit stellte er den kleinen Knabe»
mitten auf de» Tisch. Das Kind ließ
sich auch nicht lange bitten nnd verlang
te mir, daß die Mutter sein Schulbuch
holen nnd nachschauen sollte, damit sie
ihm, falls er stecken bliebe, nachHelsen
könne.
Er dektamirte „Petike" von Vörine
marty, nnd zwar so hübsch, daß uiene-
Frau ihm sagte, kein Schauspieler könös
geschickter dieses humoristische Gedicht
vortragen.
„Nun, nnd sür wie alt halten Sie
dies Kind?" fragte mich der Bater.
Ich wollte viel sagen: „Er kann fünf
Jahre alt sein."
„Ja, ja, sünszehn Jahre! Er ist de»
großen Bengels älterer Bruder."
„Nun, dann sind diese Geschwister
wirklich ungleich," sagte ich zu dem al
ten Groll.
„Es ginge noch an." erwiderte er,
„daß in Misch und Bein der Eine zu
viel, der Andere zu wenig bekommen
hat, wenn sie nnr nicht in Sache des

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