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Das Verbrechen von Lefroy, der kürzlich wegen eines Mordes in einem Eisenbahncoupe in London zum Tode durch den Strang verurtheilt wurde und dessen Hinrichtung auch wirklich stattfand, hat in England eine große Agitation be treffs des Systems, in abgesonderten Eoupe's zu reisen, hervorgerufen. Man spricht in überwiegender Majorität dafür, die Waggons nach dem amerikanischen System umzuwandeln, wo man stets in zahlreicher Gesellschaft reist und nicht nur jeder einzelne Passagier in der Lage ist, stets das ganze Innere eines großen Waggons zu übersehen, sondern eben da durch auch vor vielen Gefahren geschützt ist, weil er einerseits unter den Augen vieler Mitpassagiere reist und weil ande rerseits die Condukteure stets in der Lage sind, den ganzen Zug im Innern des Wag gons zu durchschreiten. Was die Gefah ren der Eoupe's betrifft, so hat der eng lische Schriftsteller Labouchere soeben eine Geschichte aus dem Leben veröffentlicht, die sich vor einigen Jahren in England er eignete, deren eigentlicher Zusammenhang aber bisher unaufgeklärt und ein Geheim niß geblieben war. Er erzählt das Aben teuer eines sonst sehr scheuen jungen Geistlichen, Namens I. Gloam, der bei einem Diner ein Glas mehr als gewöhn lich genommen, und einer jungen Lady, Namens Miß Aviß. Der Zufall führte die Beiden in einem Eoupe zusammen, und Gloam, der seine Gesellschafterin sehr hübsch fand, kam in seiner Weinlaune dazu, sie plötzlich mit den Worten anzusprechen: „Wie angenehm wäre es, Miß, wenn sich hier im Waggon über uns eine Mispel befände?" Da in England die Sitte be steht, daß man am Ehristabende sich unter den Mispelzweigen, mit denen die Lustres umwunden werden, und was so gleichsam den Ehristbaum ersetzt, küßt, so ging die Bemerkung des jungen Geistlichen dem Sinne nach dahin, daß er einen Kuß wünschte. Die junge Lady hatte oft von trunkenen Schurken gehört, welche nicht selten Damen in Eisenbahnwaggons in sultirten, und sie nahm den Fall an, es auch diesmal mit einem solchen zu thun zu haben. „Kein Zweifel," mochte sie den ken, „sein geistliches Gewand ist nur eine Verkleidung." „Warum rücken Sie denn so weg von mir?" fragte Mr. Gloam, und er erhob sich, um ihr mit einem un sicheren Schritt zu folgen, welch' letzterer nicht so sehr durch seine Trunkenheit — denn er war nicht vollständig trunken— als vielmehr durch die Schwingungen d:s Waggons veranlaßt wurde. Aber dem furchtsamen Mädchen, das ihn schwanken sah, erschien er als gefährlich berauscht. Völlig entsetzt, riß sie das Fenster des Eoupe's auf und schrie: „Hilfe! Hilfe! Mord! Im Nu war der junge Geistliche völlig ernüchtert. Das Geschrei des Mädchens trieb den Weindunst aus sei nem Gehirn, und zeigte ihm, in welche verzweifelte Position er sich gebracht hatte. „Um Gotteswillen, schreien Sie nicht so," flehte er. „Sie wenden mich zu Grunde richten!" Und das Mädchen an der Taille erfassend, versuchte er, sie gewaltsam vom Fensler wegzuziehen. „Hilfe!" kreischte sie, als sie auf einen der Sitze fiel und darnach rang, wieder auf die Füße zu kommen. „Um Goltes willen, Miß, lassen Sie mich Ihnen erklä ren," flehte Gloam, ihre Hände erfassend, aber die entsetzliche Furcht, welche nun auf seinem Gesicht zu lesen war, ließ ihn ihr nur noch furchtbarer erscheinen, als zuvor, während die Gewalt, die er gebrauchte, um das Mädchen zurückzuhalten, sie vol lends aller Geistesgegenwart beraubte. Sich von ihm losreißeud, taumelte sie ge gen die nächste Thür und wie rasend drehte sie den Drücker des Schlosses. Ein Wind stoß trieb die kalte Nachtluft in den Wagen . und ein Schauer von Funken aus der Ma ! fchine flog vorüber. Der junge Geistliche griff nach dem Mädchen, um es zurückzu ' ziehen. Sie wich ihm aus, und lauter . noch als zuvor schreiend, bemühte sie sich, ! auf das Trittbrett zu kommen. Dann - folgte noch ein schwacher Schrei und ! Schweigen. Bei der Raschheit, mit wel cher der Train eben eine Curve durchfuhr, schlug die Thüre des Coupes zu und schloß sich von selbst. Das Mädchen war ver ! schwunden. Gloam hatte den Hut abge- kommen und schlug sich an die Stirne, i während er dasaß, bemüht, zu begreifen, , was geschehen war; er konnte nur stöhnen ! und zitiern. Was ihn zuerst wieder zu sich ! selber brachte, war der Anblick von Din gen, welche das arme Mädchen —jetzt ohne j Zweifel todt —in dem Coupö zurückgelas- sen. Es war ein Shawl, eine Reisetasche, ein Roman und auf dem Boden eine > kleine goldene Uhr ohne Kette. Der z Train glitt in die Station; die Träger ! eilten die Plattform entlang und öffneten ! die Thüren. Einer von ihnen öffnete das Eoupe des jungen Geistlichen. „Gepäck, Sir?" „Ja, ich habe einiges Gepäck," sagte Gloam, und er stieg zitternd aus, aber mühsam nach Fassung und Ruhe ringend, wie sie einem Angehörigen des i Klerus geziemt. Im nächsten Augenblicke I war er im Gedränge der Menge, die mit ! ihren Koffern und Reisesäcken beschäftigt war. Niemand zollte ihm irgend welche Be achtung. Er hörte Niemand über Hülfe rufe sprechen, die man während der Reise vernommen. Die Passagiere dachten nur an ihre Geschäfte und überließen ihm das j Seinige. Dies bestand darin, einen Mantelsack, eine Schachtel und einen ikorb zusammenzunehmen; nachdem er dies ge j than, beauftragte er einen Träger, ihm ein Eab zu besorgen, aber er stammelte dabei, und es kam ihm vor, als ob ihm die I Worte auf der Zunge gefrieren sollten, j denn er sah jetzt ein Mädchen neben sich i stehen, welche das wahre Ebenbild von ! Miß Aviß war. Hätte das Mädchen ei nen Blick auf ihn gerichtet, sie müßte seine Verwirrung bemerkt haben; aber sie sah ! nach einem älteren Herrn und einer Dame ! welche aus sie zu kamen. „Ich habe sie nicht herauskommen se hen, Papa," fagte das Mädchen zu dem Paare. „Wir haben in jeden Wagen geschaut," sagte der ältere Herr, aber sie ist nicht > gekommen. Ich denke, sie hat den Train versäumt." „Aber wie kommt ihr Reisesack hierher?" „War nicht irgendwo ein Wagenwechsel zwischen hier und London?" rief die ältere Dame. „Ich glaube, man wechselt in Didcot. Vielleicht ist sie dort ausgestie gen und dann in einen anderen Train ge kommen." „Aber das ist sehr unangenehm!" rief das Mädchen. „Ich denke, wir werden zu Hause ein Telegramm finden," bemerkte der Vater. ! Das Mädchen hatte den Reisesack und den Shawl aus dem Eoupe genommen. Den Roman und die Uhr bemerkte sie nicht. Gloam sah die Reisetasche, auf welche das Licht einer Lampe fiel, un. las da rauf den Namen „Mary Aoitz." Ein Schwindel e-faßte ihn, als Vater, Mutter und Schwester des armen Mädchens, mit dem er gereist, an ihm vorübergingen. Tann folgt er seinem Träger nach einem Cab. Er hatte sechs englische Meilen zu sahren, ehe er seine Pfarrei in erreichte, das in der Nähe von Birming ham liegt. Die Fahrt wurde in Sicher heit zurückgelegt, aber den Rest der Nacht brachte Gloam schlaflos und in Verzweif lung zu. Am frühen Morgen wurde die Leiche von Miß Aviß auf der Bahnlinie gesunden eine Stunde später jagte sich der Geistliche eine Kugel durch den Kopf. In einem zurückgelassenen Schreiben hatte er die obigen Bekenntnisse niedergelegt. Die Fräulein Dienstmädchen» Wenn in Deutschland drei Hausfrauen bei'm Kaffee zusammensitzen, so ist es un ausbleiblich, daß das Gespräch auf die „Dienstboten" gelenkt wird und dabei so lange verweilt, bis das Thema aller gründlichst erschöpft ist. Natürlich hat jede Einzelne bitterlich zu klagen über diese bö sen Dienstmädchen, welche von Jahr zu Jahr anmaßender und anspruchsvoller werden, jeden zweiten Sonntag-Nachmit tag ausgehen, allweihnachtlich ein theures Geschenk und zur „großen Wäsche" eine Hülss-Waschsrau gestellt haben wollen. Ihr Glücklichen! Wie wohl würdet Jh Euch fühlen, wenn Ihr zuvor ein paar Jahre in Amerika den Kampf der Haus frau mit dem Dienstmädchen geführt hät tet, wie gern würdet Ihr Euch dann die europäischen Verhältnisse gefallen lassen. Aber wie würdet Ihr Euch Mühe geben, Euren vollständigen Unglauben zu ver bergen, wollte man Euch, den Nichteinge weihten, schildern, was hierzulande ein Dienstmädchen zu bedeuten hat. Natürlich ist es denn auch nicht so leicht, eine solche Fee zur Einkehr in unsere Mauern zu bewegen, sie ist sich ihres Wer thes wohl bewußt und hütet sich, eine Wabl zu treffen, die ihrer sich später nicht würdig erweisen könnte. Will sich eine Hausfrau um ein Dienstmädchen bewer ben. so hat sie zunächst respektvoll Erkun digunzen einzuziehen, welche Zeitungen gerade in den Kreisen dieser jungen Da men mode und wohlgelitten sind. In ein derartiges Blatt hat sie ihr ergebenstes Gesuch um „eine Stütze der Hausfrau" einzurücken und selbstverständlich Sorge zu tragen, daß die Fassung desselben die ge hörige Hochachtung durchblicken läßt. Es wird sich in manchen Fällen empfeh len, die poetische Form zu wählen, oder doch wenigstens einige schwungvolle Citate an geeigneter Stelle anzubringen, etwa: „Komm herab, du schöne Holde, und oer laß' dein stolzes Schloß" oder Aehnliches, damit die Heißersehnte gleich sieht, daß sie es mit einer seinsüblenden «nd gebildeten „Madame" zu thun haben wird. Ist das Fräulein nicht abgeneigt, das Gesuch in nähere Erwägung zu ziehen, wird sie die Bittstellerin durch eine Postkarte benach richtigen, daß sie dieselbe zu bestimmter Stunde zu empfangen bereit ist und jetzt darf die Hausfrau schon einige Hoffnung schöpfen. Ihre Hauptsorge muß von da ab darauf gerichtet sein, bei der ersten Be gegnung einen möglichst günstigen Ein druck auf die junge Dame zu machen; sie vermeide besonders sorgfältig an ihrem Anzüge Alles, was etwa die Betreffende in den Schatten stellen und ihre Gefühle verletzen könnte. Bescheidenheit und Ver chn«g muß sich in ihrem ganzen Austre ten aussprechen. ' Die Feststellung des Gehaltes überläßt selbstverständlich die Haussrau der jungen Dame, welche ebenso zu entscheiden hat. ob und welche Arbeit sie übernehmen will und die Bestimmungen ihrer Gemächer trifft. Es wird kaum sehlen können, daß der Frau noch diese oder jene anvere Be dingung vorgelegt wird. Der künstige Hausherr wird selbstver ständlich Takt genug besitzen, einige Tage zuvor im Gesclischaftsanzuge dem Fräulein scinc Aufwartung zu machen und sich be mühen, in ihren Augen etwas Gnade zu finden. Kaum wird es des Hinweises be dürfen, daß der Einzug der jungen Dame auch äußerlich festlich begangen wird.' Dieses sind die unerläßlichsten Bedin gungen, welche zu erfüllen sind, wenn man überhaupt ein Dienstmädchen in diesem gesegneten Lande bekommen will. Natür lich ist es bei Weitem schwerer, ein solches Juwel für einige Dauer zu erhalten. Da unseres Wissen bisher noch Niemand im Stande gewesen ist, das Wesen dieses Ge heimnisses zu ergründen und keine aner konnt zuverlässigen Grundsätze für die Er reichung eines solchen Zieles vorhanden sind, so müssen wir es dem Scharfsinn und dem Takte jeder einzelnen Hausfrau über lassen, ihre schwierige Aufgabe nach eige nem Ermessen zu losen. Türkisches. . In der Türkei stehen bekanntlich die Christen der verschiedenen Riten unter Patriarchen, denen die Regierung sehr bedeutende, Europäern unbegreislicheßechte überlassen hat. Während meines Auf enthalts in Syrien, erzählt der Orientrei reisende Herr v. Segur-Dupeyron, unter nahm ein wegen seines hochfahrenden Sin nes bekannter Patriarch eine Pastoralreise durch seine Diözese. Er wurde überall mit den größten Ehrenbezeugungen em pfangen; man verknallte Pulver, küßte ihm die Hand und brachte ihm die kleinen Kinder zum Segn»/ . Allein diese Freude sollte bald anderen Gesinnungen weichen. In den surischen Ortschaften ist es beson ders unter den Ehristen Sitte, daß der Heirath der religiöse Akt der Verlobung vorangeht. Die Zeit zwischen der Verlo bung und der Hochzeit, vier bis sechs Jahre, muß der Zukünftige zur Beschaf fung einer Mitgift aus Baum- und Schaaf wolie verwenden. Jedes Jahr fchickt der Verlobte die d irch seinen Fleiß erworbene Wolle dem Mädchen, welches daraus Garn macht, was daraus ihr Verlobter färbt und webt. Die gewebten Stoffe erhält die Braut zur Aufbewahrung für ihre Haus haltung zurück. Auf diese einfache Weise wird der künftige Familienvater an eine dauernde Sparsamkeit und Arbeitslust ge wöhnt. Dem eigenmächtigen Patriarchen erschien dieser alte Gebrauch nicht mehr passend, er befahl ohne Weiteres, daß alle seit einer gewissen Zeit verlobten jungen Leute unverzüglich heirathen sollten. Jetzt gab es gewaltigen Lärm. Die jungen Männer waren natürlich fast alle bereit dazu; alle Mädchen dagegen erhoben ein lautes Jammergeschrei, denn die Einen hatten von ihrer Mitgist nur die Hälfte, Andere nur ein Drittel oder gar ein Vier tel erhalten; und Alle erklärten, ihre Ver lobten (meistens arme Teufel) hätten noch keine Zeit gehabt, so viel zu ersparen, um die großen Kosten der Hochzeit?feier und vor Allem der „Fantasia" zu bestreiten, die ja einen Bestandtheil ieder anständi gen Hochzeit ausmache. Der Patriarch ließ, ausgebracht, ohne Weiteres zwei oder drei der widerspenstigen jungen Mädchen durch seine türkischen Soldaten ergreifen und vor sich führen. Jetzt packten alle übrigen jungen Mädchen ihre Siebensa chen zusammen und flüchteten in das Ge birge. Kriegsrath bei'm Patriarchen und Beschluß, die strengsten Maßregeln zu er greifen und die Eltern der Flüchtlinge so lange einzusperren, bis die sortgclausenen Schaafe zurückgekehrt wären. Bald dar aus hieß es, eines der festgenommenen Mädcken sei von den Türken mit Gewalt zum Beichtstuhle und vor den Altar ge schleppt worden. Nun wurde aber da» Geschrei und Wehklagen im Dorfe so arg, daß der Patriarch das Weite suchte, indem er zweien Stellvertretern die Beendigung der Sache überließ und diese führten denn nun trotz aller Protestationen der Dörfler die Zwangsverheirathungen mit löblicher Conscauenz durch! 3