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2 besiegter Stein. 1. Kapitel. Antoine Lintal und seine Tochter schritten langsam, von der Villa kom mend, die Straße entlang, dem Stol lrncingang zu. Sie mußten gegen den Wind ankämpfender ihnen den Schnee grad' entgegen trieb. Seltener Gast der, hier unten im Divorcathal, wo sonst um diese Jahreszeit, Anfang De irmber, an den Felshängen der Stein brech grünte. Es dämmerte bereits. Madelcine hatte sich fest in den Arm des Vaters gehängt. Aber nicht des Echneesturms wegen. Sie überragte seine stämmige Gestakt ja fast noch um Haupteslänge, und sie schritt so fest nd sicher aus, als ob Wind und Wet ter für sie gar nicht da wären. Eher, daß er dann und wann den Schritt verlangsamte, wenn ein heftiger heulend zwischen den engen Wänden des tiefeingeschnittenen Tals dahinjagte, weiße Schneewcllen von dem Wege aufraffte und vor sich her wälzte. Während sie aus voller Brust gleichmäßig atmete, den schönen Kops, um den sie nur lose ein Seidentuch ge schlagen, erhoben, schien ihm der vom Lonalepaß herabbrausende, auf dem Wege über die Algitschgletscher vereiste Nord den Odem zu rauben. Biswei len blieb er stehen, wandte sich halb um. vom Winde ab.und schöpfte schwer Luft Die sonst so belebte Straße war fast leer. Nur vereinzelte Arbeiter zogen des Wegs, fröstelnd trotz der wollenen Decken, in die sie sich gehüllt hatten, in der halb unter der HMe verborgenen Hand die langgestielte Grubenlampe. Die Divorca unten, neben dem We ge, schäumte und rauschte über das Fclsgeröll. Drüben, am anderen Ufer, hatte sie gestern erst im tückischen An sturm ein ganzes Stück mühsam auf gebauten Dammes fortgerissen. Ein halber Materialienzug war dabei zum Opfer gefallen, mit der kleinen Tun nrlmaschine voran den Abhang herun tergestürzt. Im grauenvollen Durch einander türmten sich Lokomotive und Lowries, Felsblöcke und Schutt, halb auf dem geborstenen Damm, halb im Flußbett, und der Schnee zog langsam seine weihe Decke über die Trümmer masse. Madeleine blickte mit traurigen Au gen hinüber. Die halbe Nacht hindurch hotte der Vater dort am Rettungswerk mitgearbeitet. Und nun war der Schnee doch ein Leichentuch. Unter den wild zusammengeschobenen, zer dogenen, hundertfach verschränkten schweren Bruchstücken im Strombett lag noch immer der Maschinenführer. Es war unmöglich gewesen, seinen Leichnam zu bergen. Schließlich hatte kein Anreiz einer noch so hohen Beloh nung die Leute zur Weiterarbeit in dem eiseSkalten, reißenden Gebirgs wasser bewegen können, aus dem fast wie ein gespenstisches Totenkreuz der seltsam zerrissene, zwischen Fels und Trümmer eingeklemmte Bodenteil ei nes der zerschmettertcnWagen senkrecht emporragte. Heut nachmittag hatte Madeleine Lintal die Witwe, die drei kleinen Mädchen des Verunglückten aufgesucht. Der dumpfe, wort- und tränenlose Schmerz, den sie dort gefunden, hallte noch traurig und herb in ihrer Seele nach. Er war ihr persönlich bekannt gewesen, der Gerresheim; einer der we nigen Landsleute, die der Vater aus dem Elsaß mitbrachte, als er hier im Auftrag der Süd-Westbahn an die Spitze des Tunnelbau - Unternehmens trat. Dieses unseligen Unternehmens, des ihm nur Kummer und Grani,Ent täuschung auf Enttäuschung brachte, seinen alten Ruf und Ruhm gefährde te, seine Gesundheit und Kraft unter grub O wie sie ihn haßte, diesen To nale - Tunnel, dies Werk, auf das ganz Europa erwartungsvoll hin blickte! Wie sie es haßte, dies tiefe enge Alpental, auf dessen Grund sechs Mo nate im Jahr kein Sonnenstrahl fiel, in dessen dunklen Schatten sie immer wieder die graue Frau Sorge auf lei sen Sohlen schleichen sah! Wie sie diese steilen Felsmassive haßte, deren eisen hartes Gestein aller Mühen des Vaters zu spotten schien, diese schnöden Ge birgswässer, die heute jeden Dienst versagten und morgen, von plötzlichen Sckneeschmelzen geschwellt,in rasender Wut alle Bändigungsversuche der Menschenhand vernichten wollten! Mit wie frohem Hoffen war sie hier vor drei Jahren eingezogen. Wie viele Bitternisse hatte ihr diese kurze Spanne Zeit beschicken. Und kein Ende abzu sehen Der schroffe Branca, der, einer Rie senkoulisse gleich, ins Tal vorsprang, schirmte sie auf Augenblicke ein wenig gegen die Wucht des Sturmes. An toine Liytal blieb hoch aufatinend ste hen. „Ein greuliches Wetter. Kind! Du gattest zu Haus bleiben sollen—" sagte :r dann mit seiner vollen, kräftigen Stimme. „Warum, Vater? Mir tut Sturm und Schnee nichts. Aber Du! Du! Was treibt's Dich gerade heut noch zur Einfahrt?" „Die Pflicht, liebe Madeleine —" „Es gibt auch eine Pflicht gegen sich selbst!" Er schüttelte ernst den mächtigen Kopf. „Gewiß gibt es die! Aber die andere ist die höhere: die Pflicht gegen die Mitmenschen, gegen meine braven Beamten und Arbeiter, gegen den Be ruf. Uebrigens —" er versuchte einen scherzenden Ton anzuschlagen „bei uns da drinnen merkt mau vom Un wetter ja nichts! Es ist mollig warm vor Ort!" „Jawohl.... 37 Grad ... ich weiß!" gab sic bitter zurück. „Und die Luft so schlecht, daß Ihr seit acht Tagen die Schichtdauer wieder verkürzen mußtet. Auch das weiß ich. Auch sogar, daß gestern das letzte Bett im Hospital be legt wurde!" „Mein Kind, wo gehobelt wird, fal len Späne. Das ist nun einmal lei der nicht anders ... Komm, wir wol len weiter gehen. Es ist nicht mehr viel Zeit, wenn ich mich noch umkleiden will." Sie durchschritten den Lawinen schutzbau, der die schmale Straße zwi schen dem jähen Abfall des Branca und dem Fluß überdachte. Als sie heraustraten, lagen die lang im engen Teil hingestreckten Jnstallationsanla gen vor ihnen. Durch den fallenden Schnee schimmerten wie durch einen dünnen Vorhang die elektrischen Bo genlampen vor der Maschinenhalle, die Glühlampen aus den Werkstätten und Bureaus herüber. Ueber ihnen schie nen Felswände und Himmel zu einem Schwarz verwachsen. Der Sturm hatte wieder mit voller Kraft eingesetzt. Der schmale eiserne Laufsteg über die Divorca erzitterte, als sie hinüber gingen, unter dem dop pelten Angriff von Wind und Wasser. Madeleine schmiegte sich noch enger an den Vater. „Warum mußt Du denn gerade jetzt einfahren? Am Abend! Um erst nach Mitternacht heimzukommen. Warum nicht morgen, Vater? Ich bitte Dich: warum?" „Weil ich eben muß! Es geht vor Ort nicht so, wie es soll. Madeleine, so sei doch vernünftig! Ich kenne mein tapferes Mädel gar nicht wieder! Und ob Tag oder Nacht,das ist doch für uns Tunnelleute ganz gleich. Unsere Ar beit stockt nie!" „Aber Dein Schlaf!" „Ach ich!" „Ich schlafe ja doch nicht!" hatte er vielleicht sagen wollen. Aber er fuhr fort: „Ich hole das bißchen ver säumten Schlaf schon nach. Wir Al ten brauchen auch gar nicht so viel Schlaf wie die Jugend." Vor der Schmiedewerkstatt machte er eine Sekunde Halt und warf durch das weitgeöffnete Tor einen schnellen Blick auf die hellleuchtenden Feuer, in denen die Bohrer seiner berühmten Gc steinsbohrmaschinen zu Hunderten glüh ten, auf die Amboßreihen, auf welchen ihren Stahlschneiden unter sprühendem Funkenregen neue Härte gehämmert wurde. Er ging nie hier vorbei, ohne hineinzuschauen. Madeleine wußte das schon. Er dachte dann stets an die Zeit zurück, da er selbst als ein facher Schmied am Amboß gestanden war's doch sein höchster Stolz, sich ganz aus eigener Kraft vom schlichten Handwerker zum berühmtesten Tun ncltechniker Europas emporgearbeitet zu haben. Langsam gingen sie unter dem Schutz des nächsten hcchgiebligen Ge bäudes weiter, bis zum Klubhaus der Beamten. Auch die Damen der klei nen, ins weltferne, italienische Alpen tal versprengten Kolonie waren hier gerngesehene Gäste. Man war ja in dieser tiefen Gebirgseinsamkeit, in die noch keine Anschlußbahn hineinführte, ganz auf einander angewiesen, man hielt zusammen trotz aller Verschieden heit der Nationalitäten. Der Vater sprach im Vorbeigehen einige Worte mit dem Wirt, der gerade in der Vorhalle beschäftigt war. „Wenn Du mich durchaus bis zur Einfahrt begleiten willst, Madeleinc, so geh nur ins Lesezimmer. Es sind ein paar Herren drinnen, Matthiesen, Gardoni, glaub' ich. und seine Frau, die wohl in ihrer Flitterwochenseligkeit ihren Schatz auch nicht allein herkom men lassen wollte Ich hol' Dich ab, sobald ich umgezogen bin." Eine Sekunde stand Madelcine noch zögernd an der Tür. Ihre Stirn krauste sich, wie immer, wenn sie über legte. unschlüssig war. Dann schüt telte sie die letzten Schneeflocken vom Kleid ab und trat ein. Die beiden Herren, die neben Frau Gardoni am Lesetisch gesessen hatten, sprangen auf und verbeugten sich. Madeleine hatte die peinliche Emp findung, eine lebhafte Unterhaltung gestört zu haben. Sie wußte ja. man sprach gerade vor ihr nicht gern von deni, was alle Gemüter beschäftigte: von den Schwierigkeiten des Tunnel- Ter Deutsche Korrespondent, Baltimore, Md., Sonntag, den 28. Mürz 1913. baues, die sich von Tag zu Tag, von Arbeitsschicht zu Arbeitsschicht steiger ten. Sie wußte auch, daß gerade der Ingenieur Gardoni,das kleine schmäch tige Herrchen dort drüben, der in sei nem Gigerljackett und mit seinem auf gedrehten Schnurrbart immer wie ein Geck aussah daß der vor ein paar Tagen erst von der „großen Kultur ruine" gesprochen hatte, dem „Gegen stück zum weltberühmten Panamaka na!". Und in dem Oberingenieur, in Mat thicscn, dem blonden Hünen, kannte sie den steten Widersacher des Vaters. Ei nen streng sachlichen Gegner freilich, den er selbst aufs höchste schätzte. Rasch schritt sie, leicht grüßend, an beiden Herren vorüber, setzte sich neben die junge rotblonde Frau und begann sofort ein Gespräch über die Einrich tungssorgen der Villa Gardoni. Ha stig: ob den nun endlich der Spediteur in Domodosalla geliefert habe? Ob auf dem Transport viel beschädigt wor den sei? Wie sich die Cuoca, die Kö chin, anlasse? Sie sprach jetzt ebenso fließend ita lienisch, wie vorhin französisch qiit dem Bater. Aber während sie plauderte, zuhörte, antwortete, dachte sie ohne Unterlaß an ihn, mit dem leisen Grauen, das sie während des ganzen Tages nicht losge lassen hatte. Und plötzlich wandte sie sich um, fragte halb über die Schulter, mit sichtlichem Bemühen, einen leichten Ton festzuhalten: „Ich sehe, Sie sind schon im Kostüm, Monsieur Matthie sen .... fahren Sie mit Papa ein?" „Jawohl, gnädiges Fräulein. Ich hätte bereits um Verzeihung gebeten, meines^,Arbeitskittels wegen... schön ist er ja nicht aber wir beiden ar men Erdenwllrmer, Gardoni und ich, mochten die interessanten wirtschaftli chen Erörterungen der Damen nicht stören." Seine Antwort verdroß sie. Immer diese Marotte, wenn sie französisch sprach, deutsch zu antworten, wo sie doch wußte, daß er das Französische fast so gut beherrschte, wie sie selbst! Dazu dieser überlegene, beinahe bei aller Höflichkeit spöttische Ton! Sie kehrte sich der kleinen Italiene rin zu. Aber ihre Augen folgten un ter den langen dunklen Wimpern ver stohlen der hohen, kräftigen Männerg estalt, während beide Herren zum Fen ster schritten. Fast wie ein Zwerg näbm sich Gardoni neben ihm aus. Er mußte die Kräfte eines Bären besitzen dieser Nordlandsriese. Und in einer plötzlichen Gedanken verbindung, über die sie sich selbst nicht ganz klar wurde, fragte sie wieder im pulsiv: „Es geht nicht gut auf Meter 4480? Ist... ist es besonders gefähr lich jetzt, Monsieur Matthiesen?" Ganz flüchtig huschte ein Lächeln um seinen Mund. Dann aber, als ahne er den tieferen Grund ihrer Fra ge, entgegnete er ernst: „Gnädiges Fräulein, nicht gefährlicher, als es un ser Beruf in hundert anderen Fällen mit sich bringt. Unser Leben steht im mer in Gottes Hand. Bei gehöriger Vorsicht ist nichts zu fürchten. Wir ha ben, eitst. neue Gesteinsschicht angeschla gen: ein loses Konglomerat. Es macht augenblicklich Schwierigkeiten... viel leicht aber, ich weiß cs noch nicht, Hilst eS uns schneller vorwärts. Im übri gen: ich halte es vertrauensvoll mit unserem guten deutschen Bergmanns- Mt: Glück auf!"" Madeleine hatte sich erhoben, wäh rend er sprach. Als werde es ihr plötzlich zu warm im Zimer, löste sie mit einer schnellen Bewegung das Tuch von ihrem Kopf. Die kleine Italie nerin sah mit unverhohlener Bewun derung zu ihr auf, in das scharfge schnittene, vornehme Gesicht, dessen Formen jetzt erst ohne die Hülle recht sichtbar wurden. „Bellissima!" flü sterte sie enthusiastisch. Kaum wohl, daß es Madeleine hör te. Sie stand noch, wie zögernd, un schlüssig. mit leicht gefurchter Stirn ei nen Augenblick still, die Hände auf der Stuhllehne. Dann schritt sie hastig bis fast an das Ende des grünbezogenen langen Tisches und sprach schnell, aber dann und wann innehaltend, al s suche sic nach einem Wort, einem halbverges scnen Ausdruck: „Herr Matthiesen! Ich habe eine Bitte! Sie sagen es doch selbst, daß es gefährlicher ist als gewöhnlich ich sorge mich! Nun ja... es mag lächerlich sein für An toine Lintals Tochter, aber ich ängstige mich. Bitte: können Sie nicht Papa bewegen, heut nicht einzufahren?" Sie war blutrot geworden, während sie sprach. Deutsch sprach. Erhörte die Heimatslaute zum erstenmale von ihren Lippen. Er sah, sie wurden ihr sehe schwer. Nicht die Sprache der Bater sprach ja sogar lieber deutsch als französisch. Der war, herumgeworfen in seinem Beruf von der Schweiz nach Italien, von Italien nach dem Kauka sus von Rußland nach Spanien, viel zu international geworden, um nicht aus jeden Nationalitätenhader mit überlegener Gleichgültigkeit herabzu schanen. Aber ihr, der Deutfchgebore iien, hatte die französische Erziehung den Haß gegen alles Deutsche einge impft man wußte das ja in ganz Usella, in der ganzen kleinen Kolonie. Es rührte ihn.daß sie deutsch sprach. Rührte ihn, trotzdem er sehr wohl emp fand, es geschah mit recht bewußter Absicht. Vielleicht weil sie ahnte, daß die deutschen Laute aus ihrem Munde eine ganz besondere Wirkung auf ihn üben mußten! Vielleicht nur, weil sie nickk wollte, daß Gardoni wissen solle, Madeleine Lintal könne sich auch äng stigen, sorgen! Absicht war's auf alle Fälle. So oder so Er biß sich auf die Lippen. Und, wie es seine Gewohnheit war, wenn er mit einem Entschluß einmal nicht gleich fertig werden konnte, drehte er mit der Rechten die Spitzen seines starken rotblonden Schnurrbartes hoch. Dann aber sagte er doch, ganz kurz und fast scharf, wie ärgerlich über sein Zögern den massigen Kopf schüttelnd. „Nein, gnädiges Fräulein! Das kann ich nicht!" Und ohne eine Entgegnung abzuwarten, nun ruhiger, in dem ehr lichen Bestreben, die Herbheit seiner Verneinung zu mildern, setzte er hin zu: „Einmal, gnädiges Fräulein es kommt mir nicht zu. Ihr verehrter Herr Bater ist der Chef; er ist mir an Erfahrung überlegen; er weiß stets ganz genau,was er tun und lassen soll. Ich glaube, er würde mich sehr be stimmt zurückweisen, wenn ich ... Aber auch abgesehen davon. Ich kann nicht acgen meine Ueberzeugung: Herr Lin tal gehört heut nacht vor Ort. Er muß die Verantwortung dafür über nehmen, wie weiter vorgegangen wer den soll —" Matthiesen unterbrach sich. Er fühlte sich befangen, unfrei unter dem Blick dieser dunklen Augen. Ein paar mal ließ er den Zeigefinger zwischen Hals und dem Kragen seines zerschlis senen Lederwamses hin und her glei ten. „Ich muß Ihnen das wohl er klären, gnädiges Fräulein damit Sie mir glauben. Ich möchte, daß Sie mir glauben! Und die Sache an sich werden Sie wohl verstehen als Tochter von Antoine Lintal. Sehen Sie, es ist da eine schwerwiegende Dif ferenz zwischen Ihrem verehrten Herrn Vater und mir. Ich bin der Mei nung, wir müssen jetzt bei den schwie rigen Gesteinsverhältnissen mit größter Vorsicht, schrittweise, rein bergmän nisch vorgehen, als gäbe es nicht Pul ver, noch Dynamit. Sonst kann uns der Krempel aus dem First... von oben... waggonweise auf die Schädel kommen. Ihr Herr Vater aber ist Schießer. So natürlich, er will eben schneller vorwärts kommen. Vielleicht hat er recht... Nun, nicht wahr? er muß entscheiden, nach eigener Prü fung vor Ort... verzeihen Sie diese technische Auseinandersetzung, gnädi ges Fräulein...." Gardoni hatte sich inzwischen zu sei ner Frau gesetzt. Sie blätterten zu sammen im Secolo. Er mußte aber heut nicht besonders fesselnd sein. Denn der Italiener rief plötzlich mit einem leisen Auslachen: „Nun sprechen sic schon alle beide in der Sprache unserer teuren Dreibundsgenossen. Und wir Acrmsten sitzen dabei und können nur sagen, wie Ihre Landsleute immer so hübsch radebrechen, wenn sie zum er stenmal über die Alpen kommen: non capisco!" „Scusi, Signor!"wcindte Mathiesen sich hastig an den Kollegen. „Le chiedo un mille di perdoni, Signora?" „Ich bitte tausendmal um Vergebung, gnädige Frau —" Und dann setzte er doch noch, wieder auf deutsch, für Ma deleine hinzu, in etwas gepreßtem Tone: „Was ich Ihnen soeben sagte, gnädiges Fräulein ... bitte las sen Sie es unter uns gesagt sein. Es ist nicht gut, wenn derartige Mei nungsverschiedenheiten weiter bekannt werden." Sie sah stumm vor sich hin, mit fest geschlossenen Lippen; die dichten schwarzen Augenbrauen stießen über der schöngeschwungenen Nase fest zu sammen, so straffte sie die Stirn. Da war schon wieder das alte häß liche Mißtrauen! Sie konnte cs nicht Hand in Hand, einem Ziele zustrebten! unterkriegen,und wenn sie sich tausend mal sagte: es ist häßlich, erbärmlich, gemein! Grundlos ist es und kindisch! So unglaublich kindisch! Daß dieser Matthiesen über Vater hinweg über Antoine Lintal! den Ruhm ernten wollte, der Vollender des To nale - Tunnels zu werden. Zu töricht zu dumm! Was dem Erbauer des Gradesca - Tunnels, dem, der den Simitsch, den Corral del Veleta bemeistert hatte, was ihm etwa nicht gelingen sollte... Aber es mußte ihm gelingen, ihm. Antoine Lintal!... das fiel Herrn Bruno Matthiesen ganz gewiß nicht in den Schoß... Diesem deutschen Bären.... Roman von H. von Die Tür schlug auf. Der Vater stand zwischen den Pfosten, im Tun nelcnzüg, über dem wollenen Wams einen kurzen ärmellosen Mantel, unter dem die Bergmannslampe hervorsah. Er schien heiterer als vorhin. „Vor wärts, Kollege!" rief er Matthiesen zu. „Und Du, Madeleine... ich bitt' Dich .... troll' Dich nach Hause. Sig nor Gardoni nimmt Dich gewiß gern unter seinen Schutz Sie war schon an seiner Seite. Trctzig und zärtlich zugleich bat sie, ihn bis zum Stollencingang begleiten zu dürfen. So traten sie hinaus. Es hatte aufgehört zu schneien, aber der Sturm blies noch schneidender als vorhin. Am dunklen Himmel glänz ten vereinzelt die Sterne auf. Zwi schen den Bergschntten schimmerte und glitzerte es hier und dort weiß, wo grad ein zitternder Lichtstrahl die Eis- und Schneehalden traf. Drüben von der Osteria her klangen Gesang und Man dolinen. Keine laute, grelle Tanzmu sik, ein schwermütiges piemoniesisches Volkslied. Es stimmte gut zur kalten Winternacht. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Magdalene hatte ihre Hand unter des Vaters Arm geschoben. Sic wollte sprechen, bitten, flehen. Aber er schnitt ihr kurz das Wort ab, kaum daß sie begonnen hatte. „Laß mich... es ist meine Pflicht." An der Maschinenhalle gingen sie hin, hinter deren Mauern das schwin gende Geräusch der ungeheuren Räder; iverke dröhnte, die das Divorcawasser kilometerweit in den Tunnel hinein preßten, damit es dort die scharfen Stahlschnciden der Bohrmaschinen in den Fels trieb. Längs dem gewaltigen Eisenrohr dann, in dem die kompri mierte kalte Luft bis vor Ort gedrückt wurde, an den langgestreckten Umklei dehallen für die Arbeiter endlich ent lang. Dicht neben diesem hielt schon der Zug. Die kleine schornsteinlose Lokomotive an der Spitze,zwanzig nie drige offene Schutterlowries hinter drein. Wie die Gnomen hockten, knie ten, lagen auf deren Boden und Bor den die Arbeiter, die zum Schichtwech sel einfuhren, jeder die schon entzündete Lampe sorgsam gegen den Sturm schützend. Ganz am Schluß eine Lowry mit Kisten und Kasten. Ein Karabiniere saß darauf, in voller Uniform, die Waffe über den Knieen. Der Wagen führte das Dynamit in den Tunnel. Man war besorgt gewor den in Italien seit dem letzten Atten tat. Man wußte, unter der aus Nord und Süd zusammengewürfelten Arbei ter schar fehlte eZ nicht an den unheim lichen Schwarmgeistern, die aus der Vernichtung des Bestehenden eine gol dene Zukunft schaffen zu können mein ten. Antoine Lintal war am drittletzten Wagen stehen geblieben. „Gute Nacht, Kind!" sagte er zärtlich, ganz ruhig. „Daß Du Dich zu Bett legst, bitt' ich mir aus. Es kann spät werden oder vielmehr früh, ehe ich zurückkomme. Morgen will ich aber keine übernächti gen Augen bei Dir sehen." Mit beiden Händen hielt sic seine Rechte fest umspannt, sah ihm wort los, mit zuckenden Mienen ins Gesicht. Dann beugte sie sich, küßte seine Hand um plötzlich, sich aufrichtend, beide Arme um seinen Hals zu schlingen,als wolle, könne sie ihn nicht lassen. „Aber, Madelcine Törin!" Aergerlich und doch lachend machte er sich endlich frei. „Gute Nacht, Kind! Und auf Wiedersehen morgen früh beim Tee!" Matthiesen bot ihm die Hand. Er schwang sich gewandt auf den Wagen bord, wo die Arbeiter schnell zusam menrückten mit einem: „Buona sera, Signor!".... „Avete sreddo, sor Lintal?" Friert Sie, Herr Lin tal?" Einen Augenblick stand der Oberin gcnicur noch neben Madelcine. Dann wandte er sich: „Gute Nacht, gnädiges Fräulein!" Es klang eigen bewegt. Da faßte sie plötzlich,hochaufatmend, nach seiner Hand. „Herr Matthiesen —," bat sie leise. „Geben Sie acht auf meinen Vater —" „Vorwärts, Kollege! Vorwärts!" drängte Lintal. „Sofort!" Matthiesen hatte die Linke schon am Wagenrand. „Seien Sie ohne Sorge, gnädiges Fräulein!" gab er leise zurück. „Ich verspreche Ihnen, über Ihren Herrn Vater zu wachen... wie cs ja auch selbstver ständlich ist. Gute Nacht, Fräulein Madeleine...." Ihre Hände lösten sich. Im nächsten Augenblick saß er neben dem Chef. Der Zugbeamte schwenkte die rote Laterne im Halbkreis. Die Maschine pfiff. Polternd setzte sich der kleine Zug in Bewegung. „Gute Nacht, Kind!" rief der Va ter, noch einmal sich rückwärts wen dend. Madelcine Lintal stand und stand und sah die Wagenreihe langsam da hinkriechen über die schmale, beschneite Bahn, einer Schlange gleich. Wie de ren Glieder leuchteten die Lampen der Arbeiter. Nun war's nur noch eine ichwarzc, versckwimmende Linie, Über der sich der weiße Dampf der Maschine bob— ein Pfiff! jetzt rollte die Lo komotive in das Einfahrtstor. Auf eine Sekunde warf die elektrische Leuckte über der dunkel gähnenden Pforte ihr grelles Licht auf die Wa genreihe.-dann verschwand sie ganz in dem Rauchschwaden, der tagaus taoein. ohne jede Unterbrechung aus den, Stollen herausquoll Madelcine hatte die Hände gegen die Brust gepreßt, Aufschreien hätte sie mögen, um sich von der dumpfen Angst zu befreien, die auf ihr lag, nachstürzen dem Zuge, sich im dunklen Tunnel vorwärts tasten an den feuchten Wän den über Geröll und Gerüst. Nur beim 'Vater sein ihm zur Seite stehen ihn warnen und zurückhalten Dann quoll in ihr ein bitteres La chen empor. Ja, wenn sie sein Sohn wäre! Der würde bei ihm geblieben sein, den würde er nicht heimgeschickt haben ,geh' zu Bett, mein Kind! Sei kiibsch artig , . .geh' zu Bett!" Und aus dem Lachen wurde ein stoß weises Aufschluchzen, während sic sich endlich wandte und langsam am rech ten Divorcn-Ufer zurückging, die Schi enengeleise entlang. Ja, wenn sie ein Mann wäre! Ehedem sie erinnerte sich wohl als die Mutter noch lebte, hatte der Vater sie nicht selten „seinen Jungen" genannt, ein so wildes Füllen, wie sie gewesen war. Damals im Kaukasus am Kabardapaß, wo sie in dem kleinen Blockhause lebten mitten unter den Tscherkessen. So glücklich freie Tage .. .bis der Vater nach Spanien ging und si: nichi mitnahm. Sie hatten es schön gebändigt und Zurechtgestutzt, die chcre mcr: und die übrigen Erzieherin nen ini Pensionat zu Montmorency, das wilde Füllen. Leicht mochte es ihnen nicht geworden sein, aber gelun gen war's ihnen doch, daS sanfte Ab schleifen. Seitdem.... ja seitdem nannte der Vater sie nicht mehr „mein Junge".... Und sie wußte doch, wie im Geheimen der Schmerz an ihm nagte, keinen Sohn, keinen Mithelfer, keinen Erben zu haben So in Gedanken versunken schritt sie zwischen den Schienen entlang, daß sie gar nicht bemerkte, als sie auf der Un sallstelle von gestern angelangt war. Erst als ihr Fuß heftig an eine quer liegende verbogene Eisenschwelle stieß, stutzte sie und sah sich um. Und da sah sie. daß sie unmittelbar vor dem jähen Abfall stand, von dem der Materialicnzug heruntergestürzt war. Gerade unter ihr erhob sich aus Geröll und Trümmern der senkrecht stehende zerborstene Wagenbodcn, der sich wie ein Kreuz gen Himmel reckte. Und sie hörte, ans dem Toten des Wassers heraus, ein Wimmern und Schluchzen. Furcht war ibr fremd. Aber hier, beut, wo die Sorge all ihre Nerven spannte, übcrschlich sie doch ein Grau sen. Si; hielt den Atem an und spähte über die Schneefläcke hinab zum User der Divorca. Da unten kroch es hin und her. Ein grauer Schatten. Hockte fick, tuschte über die Fclsblöcke, richtete sich auf. duckte wieder nieder. Menschlich; Gestalt hatte es. und nun streckte es die Arme hoch empor, wie probend, nach dein Stollencingang zu. Noch immer stand Madelcine wie ge bannt, regungslos. Das olle Mär chen schoß ihr durch den Sinn, von dem di; Arbeiter am Herdfeucr rann :en: das Märchen vom Berggeist, dem grauen Tunnckgespenst. das wehkla gend in den Klüftungen Hauke. wie eine Wolke am First entlangschwebe, un glückskiindcnd. Wenn aus verborge nen Höhlen die Bergwasscr plötzlich jäh herabstürzten, lo spretto hasse ihnen den W-g gewiesen. Wenn ein Bursch im Gneise strauchelte und die Lowry zermalmend Über ihn hinging, lo spretto hatte ihm ein Bein gestellt. Wenn die Dhnamitpatrone vor Ort vorzeitig explodierte, des Berggeistes Werk war'. Lo svretto knickte dis festesten Balken, brach Pfähle und Bretter, löste die Verbände der Zimme rung, blies den Mineur mit stickig hei ßem Odem an... im ewigen Kamps mit dem frechen Eindringling in seine ekligen Gründe. Unsinn das alles Aberglauben! Sic wußte das und starrt doch hinun ter in die Tiefe mit grauenerfölltcr Seele. Aber dann flog sie plötzlich eilenden Fußes den Abhang hinab. In einem Augenblick, da die Ge stalt dort unten von einem Felsblock geradeswegs in den Strom schreiten zu wollen schien, hatte sie die Unselige er- lannt. Geahnt mehr noch, wer dort den Tod sucke, als wirklich geschaut: des verunglückten Lokomotivführers Weib „Marianne!" rief sie, von Stein zu: Stein springend, über die Trümmer hinwcgkletternd, fallend, wiederauf stehend. „Deine Kinder, Marianne. Denk' an die Kinder!" Sie achtete nicht darauf, daß ihre Hände sich an dem übercisten Gebälk der über den Hang hinabhängenden Lowries blutig rissen, daß ihre Kleider zerrissen. Sw dachte nicht daran, daß ein einzige unglückliches Ausgleiten ihr den Tob bringen konnte, hier, wo im Dunkel der Nacht der Fuß nur tasten, das Auge nicht unterscheiden konnte, der frische Schnee alle Ungleichheiten unter trügerischer Decke verbarg. Sie ha stete vorwärts. „Die Kinder, Ma rianne! Denk' an Gott!" rief sie im mer wieder. Endlich stand sie neben ihr, um schlang sie mit ihren kräftigen. iu gendstarken Armen, zwang sie von der gefährlichsten Stelle zurück, trug m fast bis zum Hang. Die Unglückliche widerstrebte nur schwach. Mehr wohl als bessere Ueberzeugung lähmte Madeleines plötzliches Erscheinen ihr Willen nv Entschluß. Zitternd lag sie in den Armen des Mädchens. Tann, als Madelcine sie auf dem Geleite niedcrgleiten ließ, um Atem zu schöpfen, kauerte sie wimmernd n" Schnee, die Kniee hochaezogen, das Ge sicht, Über das die Haare in wirren Strähnen herabhingen, in den Han den. Ratlos harrte Madeleine neben ihr. Vorhin, in den ersten Augenblicken der Erregung, hatte die junge Kraft w über altes hinfcrtgctragen. wußte sie nicht, was beginnen. S>r versuchte Wohl, der Landsmännin zusprechen aber sie fühlte, wie we nig Worte dieser Verzweiflung gegen über vermochten Und ringsum, im Schatten der Nacht, di: tiefe Einsamkeit. Wohl schimmerte der Schein der elektrischen Leuchten aus der MaschinenwerlstaU bis hier herüber. Dazwischen aber schäumte di; Divorca, und ihr Toben und Brausen übertönte jeden Ruf. - -- Und doch durfte sie die Unglückliche nicht allein lassen, um Hilfe herbeizu holen. Sie mußte die ihrer S>ne nicht Mächtige bewegen, aufzustehen mit ihr zu gehen....das arme Wem war ja von Haus fortgelaufen, Mw dürftig bekleidet, im bloßen Kopf, die Füße in dünnen Bastschuhen... >un° der Sturm fauchte noch immer eistll durch die Talenge. Madeleine kniete im Schnee neben ihr nieder, umschlang sie, als möchte w ihr von der Wärme des eigenen Kör pers abgeben, bat, komm doch nur, Marianne! So spn"! doch nur " Vergebens! Vis sich die Unglückliche plötzlich auf die Kniee warf, die Arme reckte. Jäh brach ihr Schluchzen ab- Eine Sekunde starrte sie, ohne sich regen, auf das dunkle Felsmassiv drü ben. Und dann schrie sie auf. wie in einer großen Klage, in hab erfüllter Drohung: „Verfluchtes, drei' mal verfluchtes Werk! Den Vater hab Du mir erschlagen! Meinen Brodes baben sic eingescharrt am Gotthard. Meinen Kindern hast Du den Vater genommen! Was Du bringst, ist Ve>> derben! Fluch über Dich! Fluch no Verdammung!" Es gellte durch dos Tal über alles Sturmesbrausen und Wasierrauschcn. Es schnitt wie Stahl in Madeleine Herz. Sie konnte nicht aufschauet sie vermochte keinen Laut, keine B>a' über die Lippen zu bringen. Bis >" ' Mark hinein erschauerte sie. Nur Hände fügten sich unwillkürlich ,zt kommen, zu einem wortlosen Gebet. Eine Weile noch kniete Marianne Gerresheim mit hocherhobenen Hat den, in den Augen ein unhcimuchc- Lenchten. der schmale, armselige Kör per wie zu Stein erstarrt. Dann brach sie zusammen, mit e: nein letzten schneidenden Aufschrei- Minuten vergingen, ebe Madelcine sich zu rühren wagte. Sie, die w Lebensgefahr das unglückliche W, vom Rand- des Abgrundes hatte, ohne zu zögern sie furch"' ück jetzt vor ihr. War's doch gemessn wie ein Ausbruch des Wahnsinns .- diese schreckliche Drohung..--dwss' Fluch, der immer noch in der nackgellte: der Fluch auf des Bote Merk.... , Mühselig, langsam mußte "st da Mitleid die Furcht besiegen. Bis I - dann, immer noch in dumpfer ihre Hand auf Mariannes Sch>" legte und leise bat: „Steh' auf--- Wir wollen gehen!" (Fortsetzung folgt.)