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Der Staats=Anzeiger. (Rugby, N.D.) 1906-current, November 07, 1907, Image 3

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MWWWeWre
Erzählung von
Betta Kehren.
(2. Fortsetzung.)
Seine freundlichen Worte gaben
Dora ihre Unbefangenheit wieder, und
ganz glücklich war sie, als der Pro
fessor, ihren Wunsch errathend wie
der zwei Bände Storm von dem
mächtigen Büchergestell nahm und sie
ihr mit nach Hause gab. Sie bedankte
sich lebhaft und versprach, die Bücher
bald zurückzubringen.
Es hat keine Eile, sagte er. Aber
vielleicht sprechen. Sie in einigen Ta
yn einmal vor und nehmen Ihr Ma
»uskript wieder mit. Ich werde es
sobald wie möglich lesen und Ihnen
mein Urtheil offen und unverblümt
mittheilen. Um diese Stund« bin ich
immer zu Hause. Vielleicht wenn
es Ihnen Freude macht reisen wir
dann einmcrl zusammen nach Venedig,
da es Ihnen heute in Florenz so gut
gefallen hat.
Es müßte hübsch fein, dachte er,
als sie gegangen war, so ein liebes,
junges Ding öfters bei sich zu haben.
Hü'1er dtnu er lächelte, indem er sich
ihres offenen Geständnisses erinnerte,
da?.u bin ich doch wohl noch nicht alt
genug.
lZr setzte sich wieder an denSchreib
tisch und versuchte, seine unterbro
chctte Arbeit .wieder aufzunehmen.
Dal) wollte es ihm nicht recht gelin
gen, den zerrissenen Faden wieder an
zuknüpfen. Zerstreut griff er nach
dem Manuskript, das Dora ihm ge
bracht hatte. Er las den Titel „Em
por zum Licht", freute sich an der
schönen, klaren Handschrift und be
gann zu lesen.
Er lächelte oft, während et laS.
Einmal sogar lachte er laut. Es
zuckte ihm zuweilen in den Fingern,
eine spöttische Randbemerkung zu
machen, aber zuweilen las er auch
einen Absatz zweimal, zuweilen schim
inerte es ein wenig feucht in seinen
Augen, und das Lächeln war kein
Lächeln spöttischer Ueberlegenheit, son
dern der Rührung.
Ein Hauch von Jugend schien ihm
von diesen Blättern auszugehen. Ein
froher, unerschütterlicher Glaube an
die Macht des Guten, eine helle Be
geisterung für das Edle und Wahre,
ein heißes Verlangen nach Harmonie
und Schönheit sprach aus diesen Zei
Üeit. Daneben aber eine so weltfremde
Umfahrenheit, eine so kindliche Auf
fassung aller Lebensverhältnisse, daß
Professor Rüdiger dem Schreiber des
Briefes in jedem Punkte beistimmte
und die Ablehnung der Erzählung
durchaus berechtigt fand. Ihm per
sönlich jedoch gewährte die Lektüre
einen herzerfreuenden Genuß. Ihm
erschloß sich eine junge Seele, wie eine
eben erblühende Rose, die in thau
frischer Reinheit und unbewußter
Schönheit den Kuß der Sonne er
wartet.
Er blieb noch lange vor seinem
Schreibtisch sitzen, als. er die Ge
schichte zu Ende gelesen hatte. Ta
lent steckte darin, ohne Zweifel,
und so unendlich viel jugendlicher
Idealismus. Es müßte eine köstliche
Aufgabe sein, dachte er, diese junge
Seele zu leiten und zu führen zu den
sonnigen Höhen edlen Menschen
thumS, ehe eine täppische Hand ihr
den Blütenstaub von den Schwingen
streifte, ehe sie irrend den Weg ver
fehlen könnte „empor zum Licht" und
hinabsänke in Elend und Finsterniß,
wie so manche, so manche
Er bemerkte es nicht, daß es däm
meng wurde er überhörte es, daß
die Thür sich öffnete, und erwachte
erst aus seinem Sinnen, als eine
weiche Hand sich auf seine Schulter
legte und eine Frauenstimme zärtlich
fragte: Noch im Dunkeln, Eberhard,
und so tief in Gedanken?
Ich dachte an ein Dichterwort,
Mutter. antwortete er, indem er ihre
Hand ergriff: „eine schöne Menschen
seele finden, ist Gewinn". Und dann
erzählte er ihr von dem kleinen Mäd
chen Dora wäre über diese Be
zeichnung sehr entrüstet gewesen —,
das sich so vertrauensvoll an ihn ge
wandt hatte. Er erzählt ihr, daß
das schmale, blasse Gesichtchen mit
den dunkeln Augen, den Augen jener
Murillo'fchen Madonna, ihm schon
während seiner Vorträge aufgefallen
sei, daß der Schulrath sich ihm gegen
über sehr günstig über die junge Leh
rerin geäußert habe, daß sie infolge
ihrer Krankheit ohne Stellung sei,
und was er sonst von den ärmlichen
Verhältnissen wußte.. Es sei doch
Christenpflicht, meinte er, helfend hier
einzugreifen. Die Mutter möge sich
besinnen, wie man die beiden Frauen
unterstützen könne, ohne ihr Ehrge
fühl zu verletzen. Er als Junggeselle
müsse sich doch in Acht nehmen, um
den guten Ruf des jungen Mädchens
nicht zu gefährden.
Nur etwas verschwieg er bei seinem
Bericht über Dora Gilbert, nämlich
ihre offene Erklärung, daß er zu alt
sei, als daß man sich in ihn verlieben
könnte. Er wußte, daß eine solche
Bemerkung die Eitelkeit seiner Mut
ter schwer verletzt und die alte Frau
von vornherein gegen das junge Ding
eingenommen hätte, während ihm ge
rade diese unbekümmerte Aufrichtig
feit so sehr an ihr gefiel. Ihm war
um seines Reichthums willen von
Frauenmund so viel geschmeichelt und
gelogen worden, daß ihm bei. seinem
geraden, offenen Charakter der Ver
kehr mit Damen sehr verleidet wor
den war, besonders seit er sich selbst
als Krüppel betrachtete.
Als er später nach dem Abendessen
noch mit der Mutter in dem etwas
altmodischen, aber sehr gediegenen
und behaglichen Speisezimmer saß,
holte er Dora's Manuskript herbei
und las einzelne Stellen daraus vor.
Und bei den Stellen, die ihn gerührt
hatten, fragte er: „Ist das nicht
hübsch? und bei solchen, die ihn be
lustigt hatten, lachte er wiederum
herzlich und sagte: Ist das nicht kost
lich?
Dora hatte unterdessen daheim eine
Schnitte Graubrot mit Wurst als
Abendessen verzehrt und saß nun
allein beim Schein der Petroleum
lampe, in betn neuen Band Storm
lesend, ber vor ihr auf betn Tisch lag.
Sie las unb las, mit jener glückseli
gen Versunkenheit in eine Erzählung,
wie nur die Jugend sie kennt. Ver
gessen waren die Sorgen des Alltags,
vergessen ihr Kummer, ihre Enttäu
schung. Ihr lebhafter Geist folgte
dem Dichter willig auf feinen Pfaden,
ob sie über die sonnige Heide oder das
schaurige Moor, ob sie in stille Wald
winkel oder alte Schlösser führten.
Sie hoffte und verzweifelte, jubelte
und weinte mit den Menschen, die
s'ine Kunst so lebendig gestaltet hat,
daß sie sie alle zu kennen glaubte.
Sie hätte gern ihrer Matter die
eine oder andere Erzählung vorgele
sen, doch deren Phantasie viel
hatte sie wohl nie besessen war
schon längst durch Sorcen und geist
tödtende Arbeit flügellahm geworden,
und sie zog es vor, Abends nach sau
rem Tagewerk mit einer Nachbarin
die Stadtneuigkeiten zu bereden. Kam
sie dann in ihre Wohnung zurück und
fand ihre Tochter, die sonst so blassen
Wangen gerötbet, die Hand in dem
weichen schwarzen Haar vergraben, in
ein Buch vertieft, oder auch eifrig
schreibend, so dachte sie seufzend:
Ganz der Vater!
Genau so hatte ihr verstorbener
Gatte als junger Lehrer über seinen
Büchern und Schreibereien gesessen,
wenn sie Abends schnell noch einmal
in sein Stübchen gehuscht war, um
ihm einen Gutenachtkuß zu geben.
Es wäre wohl besser gewesen, sie hätte
dem Wunsche ihres Vaters, des ehr
samen Amtsschreibers, sich fügend,
Den behäbigen Weiß-, Woll- und
Kmwaaren Händler und Ladenbe
fitzer geheirathet, der sich um sie be
warb, aber die schönen, dunkeln Au
gen ihres Zimmerherrn hatten es ihr
nun einmal so angethan, daß sie nicht
von ihm lassen zu können glaubte.
Seine Freunde hatten ihm auch da
mals eine große Zukunft prophezeit,
dieselben Freunde, die sich darüber
erzürnten, daß er die Liebschaft mit
der blonden Schreiberstochter so
ernst nahm und, um sie heirathen zu
können, seine hochfliegenden Pläne
opferte und sich mit der erstbesten
Lehrerstelle begnügte, die ihm geboten
wurde. Sie sagten ihm geradeaus,
das stete Zusammensein mit einer
halbgebildeten Frau, die unausbleib
lichen Familiensorgen und die ermll
dende Thätigkeit in der Schule wür
den seine Schaffenskraft lähmen. Er
aber, der stets Hoffnungsfrohe, lachte
iißer ihre Besorgnisse und meinte sein
Weiö würde er [ich schon heranbilden,
und sein Talent würde in einem
fried'ichen, glücklichen Heim erst recht
einen gedeihlichen Boden finden.
Wer von ihnen recht hatte, sollte
sich nicht entscheiden, denn schon nach
wenigen Jahren nahm der Tod die
Feder aus der Hand des unermüdlich
Schaffenden, noch ehe er seinen gro
ßen Roman hatt«* vollenden können,
von dem et alles für feine Zukunft
erhofft hatte. Zu ungebildet, um den
Werth seiner Arbeit zu würdigen,
hatte die Wittwe mit anderen Papie
ren auch das unfertige Manuskript
verbrannt, eine That, die Dora ihrer
Mutter niemals ganz verzeihen konn
te, die diese selbst aber ihrer Meinung
nach vollkommen mit der Behauptung
rechtfertigte, es habe viel gottloses
Zeug darin gestanden, und für junge
Mädchen sei vieles überhaupt gar nicht
passend gewesen. Von dem eigentli
chen Inhalt wußte sie nichts mehr,
nur den Titel hatte sie behalten: „Der
Wahrheit die Ehre!"
Dieser Titel hatte Dora fr gut ge
fallen, daß sie ihn zu ihrem Wahl
spruch erkoren hatte. Er schien ihr
wie ein Vermächtnis) ihres Vaters,
dessen sie sich zu ihrem Kummer nur
noch dunkel erinnerte, den sie aber
nach dem Wenigen, was sie von ihm
kannte, seinem Bilde, seinen Gedichten
und ein paar kleinen Erzählungen,
schwärmerisch verehrte. Wie gut wür
de et ihr geistiges Streben, ihre
Freude an der Poesie, ihre Liebe zur
Kunst verstanden haben, über die ihre
Mutter in ihrer nüchternen Haus
backenheit oft genug den Kopf schüt
telle. Die gute, arme Frau! Die
kurze Ehe hatte nicht genügen kön
nen, ihre Bildung zu vollenden, und
ihr späteres Leben war durch geist
tötende Arbeit und die kleinlichen,
aber beständigen Sorgen des Alltags
so ausgefüllt, daß Poesie und Kunst
keinen Raum darin hatten finden kön
nen. Deshalb hielt sie auch bei ihrer
Tochter alles Lesen und Schreiben für
höchst überflüssig, soweit es nicht für
ihren Beruf als Lehrerin nöthig war,
der für Frau Gilbert auch nur eine
praktische Bedeutung, die des Geld
verdienend hatte.
So schalt sie denn auch heute ein
wenig, als sie Dora noch bei ihrem
Buche fand, daß sie unnütz Licht ver
brenne und bei ihrer leidigen Ge
wohnheit, die Arme aufzustützen, die
Ellenbogen verschleiße. Sie hätte lie
ber früher zu Bett gehen sollen, wie
der Arzt es ihr verordnet halte, da
mit sie bald wieder kräftig genug
wäre, um unterrichten zu können.
Von jetzt an sollte sie auch jeden Mor
gen spazieren gehen, denn sonst könn
ten die theuren Ejsenpillen nichts
nützen, hatte der Doktor gesagt.
Dora hörte kaum, was die Mutter
redete. Ihre Gedanken waren weit,
weit fort. Noch beim Einschlafen
dachte sie an das, was sie gelesen, und
seufzte: Wer doch etwas so Schönes
schreiben könnte! Aber wie soll ich
das Leben kennen lernen und wo die
Natur studiren!
Dora war ganz glücklich, als sie
einige Tage später wieder bei Profes
sor Rüdiger in dem tiefen Ledersessel
saß. Sie hatte sich ordentlich danach
gesehnt, diesen herrlichen Raum mit
all den schönen Dingen wiederzusehen.
Wie glücklich mußte erst der Mann
sein, der in einem solchen Zimmer
wohnen durfte, dessen Blick, wenn er
von feiner Arbeit aufschaute, auf die
Murillo'sche Madonna oder auf die
Venus von Milo fiel.
Sie mußte sich zwingen, ihre Au
gen auf den Professor zu richten, der
von ihrer Arbeit sprach Er rieth ihr,
keinen zweiten Versuch zu machen, sie
zum Abdruck zu bringen. Der Schrei
ber des Briefes, sagte er, habe es ehr
lich mit ihr gemeint, und sie solle
seilte guten Rathschläge befolgen.
Versuchen Sie einmal, etwas zu
schildern, was Sie wirklich kennen,
ein Stückchen Leben, wie es sich vor
Ihren Augen abspielt, die verschiede
nen Eindrücke auf einem Spazier
gang, oder irgend einen Menschen aus
Ihrer Bekanntschaft, ganz nach Ihrer
eigenen Anschauung, mit Ihren eige
nen Worten. Schreiben Sie vorläu
fig Skizzen, Studien nach der Natur,
aber keine erdachten Geschichten. Jede
Kunst will erlernt fein, auch die des
Erzählens. Aber vor allem, kleines
Fräulein, schreiben Sie keine Liebes
geschichten, bis Sie erst mal selbst eine
erlebt haben. Er lächelte wieder im
Gedanken an verschiedene Stellen ih
rer Erzählung, über die er so herzlich
hatte lachen müssen. Sagen Sie mal
in Ihrem Alter darf man ja noch
Danach fragen —, wie alt sind Sie
eigentlich? Achtzehn Jahre?
O nein, Herr Professor, ich werde
schon bald zwanzig. Ich habe doch
schon im vorigen Jahr mein Examen
gemacht. Und auf seine der Frage
vorhergehende Bemerkung zurückkom
mend, fügte sie hinzu: Liebesgeschich
ten sind aber immer die schönsten, be
sonders die unglücklichen, wie Im
menfee von Storm.' Aber so etwas
zu erleben, das muß schrecklich sein.
Lieber will ich keine Liebesgeschichten
schreiben können, ober nur glückliche,
obgleich sie nicht so schön sind.
Liebe und Leid kommen ungerusen
in jedes Menschenleben, antwortete
Professor Rüdiger ernst und blickte
einen Augenblick sinnend vor sich hin.
Er dachte an das Mädchen, das er
vor Jahren so heiß tieliebt hatte, bis
ein irrthümlich in seine Hände gera
tener Brief ihm die bittere Wahrheit
enthüllte, daß seine Braut ihn nur
'eines Reichthums wegen heirathen
wollte, wührenb sie mit einem ganz
unbedeutenden, aber btldhiibfchett Of
fizier ein ebenso aussichtsloses wie
'ältliches LiebeZverhältniß unterhielt.
Nie wieder ein Weib Macht über sich
gewinnen zu fallen, hatte er sich da
mals gelobt, und diesen Schwur hatte
er sich bis heute gehalten.
Zuweilen doch auch Liebe und
Glück, sagte Dora leise, indem sie mit
einem scheuen Blick seine verbitterten
Züge streifte.
Er lächelte ihr zu. Sie sinv noch
jung. Freuen sie sich bessen.
Der Professor hatte keine Neigung,
bei dem soeben berührten, für Dora
sehr interessanten Thema zu verwei
len, unb sagte: Sie müssen sorgen,
daß Sie rothe Wangen bekommen.
Gehen Sie auch fleißig spazieren.
Im Hofgarten können Sie jetzt das
Erwachen des Frühlings studiren.
Zeit haben Sie doch dazu. Uebrigens
hätte ich auch eine Bitte an Sie Sie
haben eine so schöne klare Hand
schrift. Würden Sie mir wohl einen
kunstgeschichtlichen Aufsatz abschrei
ben, das heißt, wenn Sie meine Hie
roglyphen lesen können. Ich müßte
Ihnen aber zuvor einige Stellen klar
machen, weil ich sehr viel durchgestri
chen unb verändert habe.
Dcra war glücklich, dem verehrten
Manne einen kleinen Dienst erweisen
zu können und folgte aufmerksam fei
nen Anweisungen. Er freute sich
ihrer raschen Auffassung und ihres
Verständnisses. Ehe sie jedoch den
Aufsatz ganz durchgesehen hatten,
klopfte es an der Thür.
Das saubere Dienstmädchen erschien
und fragte höflich, ob Herr Professor
auch nicht vergesse, daß er mit Frau
Geh imrath in's Theater gehen wolle.
Der Thee sei fertig.
Dann dürfen wir meine Mutter
nicht warten lassen, sagte Rüdiger,
indem er sich erhob und nach feinem
Krückstock griff. Kommen Sie, Fräu
lein Gilbert, trinken Sie eine Tasse
Thee mit uns. Meine Mutter wird
sich freuen, Sie kennen zu lernen. Ich
habe ihr schon von Ihnen erzählt.
Die beiden lebten Seiten leben wir
dann nachher noch eben durch, und zu
der geplanten Reise nach Venedig
werben wir ein andermal Gelegenheit
finden.
Er hatte sich in feinem Innern ei
nen Plan zurechtgelegt, durch den et
dem jungen Mädchen einen leichten
Verdienst zu verschaffen gedachte, bis
sie wieder unterrichten konnte, doch
wollte et nichts davon sagen, ehe er
seine Mutter ganz dafür gewonnen
hatte.
Dora hätte am liebsten seine Ein
ladung gar nicht angenommen. Ihre
Schüchternheit kehrte sofort wieder bei
dem Gedanken, daß sie bei einer frem
den Dame Thee trinken sollte, die noch
dazu eine Geheimrath war. Das be
stimmte Wesen des Professors jedoch
ließ keine Ablehnung zu, und mit
klopfendem Herzen folgte fie ihm in
das Speisezimmer.
Eine stattliche alte Dame erwartete
sie dort schon am Theetisch: sie war
in schwere schwarze Seide gekleidet,
trug ein feines Spitzenhäubchen auf
dem weißen Scheitel, eine goldene
Brille auf der Nase und machte auf
Dora einen sehr ehrfurchterweckenden
Eindruck. Ein Paar kluge, graue Au
gen blickten durch die Brillengläser
hindurch prüfend, aber nicht ohue
Wohlwollen auf das junge Mädchen,
das sich bei der Vorstellung bescheiden
vor der Hausfrau verneigte und ohne
Zie^rei den Platz ihr gegenüber ein
nahm.
Professor Rüdiger sagte sich im
Stillen, daß sein Schützling heute
gar nicht vortheilhaft aussehe. Auf
die kalten hellen Tage war plötzlich
sehr mildes Wetter gefolgt, und da
Dora heute auf das Drängen ihrer
Mutter den ersten größeren Spazier
gang gemacht hatte, fühlte sie sich jetzt
am Abend infolge des Witterungs
Wechsels und der ungewohnten An
strengung sehr müde und angegriffen.
Ihre Augen waren matt, und selbst
ihre Lippen waren heute blaß und
farblos, wie das ganze schmale, elende
Gesichtchen.
Der Professor machte es sich selbst
nicht klar, daß ihr schlechtes Aussehen
seine Mutter eher seinen Plänen ge
neigt machte, als wenn die äußere Er
scheinung des Mädchens in ihr Ge
danken nahegelegt hätte, daß das In
teresse ihres Sdhnes noch einen an
dern Grund als den des Mitleids und
reiner Nächstenliebe haben könnte.
Diese reizlose Kleine mit den schma
len Schultern und den magern Kin
derhänden war wohl für einen gereif
ten Mann ganz ungefährlich. Der
alten Dame gefiel es hingegen, daß
sie bei aller Einfachheit so tadellos
sauber und ordentlich aussah, daß
den klugen Augen entging nicht leicht
etwas ihr Haar, ihre Zähne und
Fingernägel sorgsam gepflegt waren,
daß sie eine weiche, angenehme Stim
me und ruhige, anmuthig« Bewegun
gen hatte. Auch beim Essen unb
Trinken benahm sie sich nett unb ma
nierlich unb was burchaus nicht
ohne Bedeutung war gegen ben
Herrn Professor war sie bescheiden, ja
fast ehrerbietig, nicht vertraulich, wie
die Mutter fast gefürchtet hatte.
i
Dora war hi.'r in der That längst
nicht so unbefangen und zutraulich
gegen ihn, wie sie es in feinem Ar
beit^immer gewesen. Er karr ihr
plötzlich so beängstigend vorn.'hin vor,
als sie sah, mit welcher Selbstver
ständlichkeit er aus einer echt chinesi
schen Tasse feinen Thee trank, nach
dem er zuvor aus einer silbernen Dose
Zucker und aus einer kunstvoll ge
schlissenen Kristallflasche Arrak dazu
genommen hatte. Auf dem feinen
Damajttischwch, das wie Seide
glänzte, stand eine silberne Platte mit
kleinen belegten Brotschnitten und ein
gleichfalls silbernes Körbchen mit Ge
bäck. Dora hatte immer geglaubt,
daß die Leute, die so schöne Dinge be
säßen, sie nur an hohen Festtagen ge
brauchten. Und diese Menschen be
nutzten sie, wie es schien, alltäglich,
genau so wie sie und ihre Mutter das
dicke Steingutgeschirr, die eisernen
Gabeln, die Theekanne mit dem
„abben Schnüßchen", wie ihre Mutter
sich ausdrückte, und die roth und weiß
gewürfelte Kaffeedecke.
Vom Tisch weg schweiften ihre Au
gen im Zimmer umher und ruhten
bald auf einem Majolikawandteller,
bald auf einer alterthümlichen Zinn
kanne oder auf einem Deister Krug.
Sie müssen aber das Essen nicht
vergessen, sagte plötzlich der Pro
fessor.
Sie antwortete nur mit einem lei
sen, glücklichen Lachen: Es ist alles
so schön hier.
Er wars seiner Mutter einen lä
chelnden Blick zu. War sie nicht kost
lich, diese naive Freude am Schönen?
Dann erzählte er ihr, wie er die
einzelnen Stücke allmählich erworben
und zusammengetragen hatte. Plötz
lich aber unterbrach er sich und stand
aus. Die Damen entschuldigen mich
wohl. Ich muß vor dem Theater
noch ein wenig Toilette machen.
Fräulein Gilbert, Sie haben wohl die
Güte, meiner Mutter unterdessen die
Inhaltsangabe der neuen Oper vor
zulesen, die wir heut«. Abend hören
werden. Meine Mutter sieht nämlich
schlecht und hat mehr Genuß von der
Vorstellung, wenn sie vorher über di?
Handlung des Stückes unterrichtet
ist.
Als der Professor später mit der
alten Dame im Wagen saß, um zum
Theater zu fahren, fragte et nur:
Nu«. Mamachen? Er wMe. daß
sie diesem Schmeichelwort au8 seiner
Kinderzeit nicht leicht widerstand.
Das Mädchen hat mir ganz gut
gefallen, antwortete sie. Hübsch ist
sie ja nicht, na, bas ist ja auch
nicht nöthig, aber sie hat ein an
genehmes Wesen, unb sie liest recht
nett. Unb wenigstens einmal am
Tag eine ordentliche Mahlzeit, bas
wird ihr gut thun. Dafür wirb un
sere alte Karline schon sorgen. Aber,
weißt Du, mein Junge, geh lieber erst
mal zu ben Leuten hin und sieh zu,
ob sie s wirklich so nöthig haben. Es
wirb so viel gelogen in der Welt.
Die Person, die diesen Winter so
lange das Essen für ihren kranken
Mann geholt hat, war, wie sich
schließlich herausstellte, gar nicht ver
heirathet.
Abet, liebe Mutter, bte Kleine hat
boch webet bei mir geklagt, noch in
irgenb einer Weise gebcltelt. So, wie
ich sie beurtheile, würbe sie lieber
verhungern, als ein Almosen nehmen.
Sie bars nie auf ben Gebanten kom
men, baß wir uns aus Mitleib ihrer
annehmen. Ich glaube auch wirklich,
Mutter, baß es Dir angenehm fein
wirb, das junge Mädchen jeden Nach
mittag ein paar Stunlcn bei Dir zu
haben. Sie kann Dich bei Deinen
Besorgungen in der Stadt begleiten
und mit Dir spazieren gehen, mit Dir
plaudern und Dir dann nach dem
Abendessen eine Stunde vorlesen.
Denn daß sie eine gute Mahlert be
kommt, dafür muß man in erster
Linie sorgen. Aber Du hast recht, ich
will morgen einmal selbst hitvjvfccn
und mir die Mutter und die häus
lichen Verhältnisse ansehen, ehe ich
ihr einen Vorschlag mache, der sie
täglich in unser Haus führen wird.
Zunächst natürlich nur für einen Mo
nat. Wir müssen dann mal überle
gen, wie viel man ihr anbieten darf,
ohne daß sie bas Gefühl hat, eine Un
terstützung zu empfangen.
Du bist sehr zartsühlenb, Eber
harb. Ich glaube, mehr als nöthig in
diesem Falle.
Liebe Mutter, ich glaube, man kann
niemals zu zartfühlend fein, beson
ders wenn man Jemand eine Wohl
that erweisen will, die er nicht ver
langt hat, und vor allem einem un
erfahrenen jungen Mädchen gegen
über, dem ber Schutz unb bie Für
sorge eines Vaters fehlt.
Als Professor Rübiger am nächsten
Tage unter bem Vorwand, daß er an
feiner Arbeit vor dem Abschreiben
noch etwas ändern wolle, Dora bei
ihrer Mutter ausgesucht hatte, kam er
ganz bewegt nach Hause.
Was giebt es doch für armselige
Existenzen, Mutter, sagte er. Unser
Schützling ist wohl sein Leben lang
eine rechte Schattenpflanze gewesen.
Wir thun wirklich ein gutes Werk,
wenn wir etwas Licht und Wärme in
biefes sonnenlose Dasein bringen.
Mit ber Mutter habe ich auch n we
nig geplaubert. Sie ist keine Dame,
aber sie ist mehr als bas: sie ist eine
brave Frau unb eine gute Mutter.
Mit aller Liebe unb allem Fleiße hat
sie jeboch für sich und ihr Kind nicht
mehr als das Allernothwendigste
schaffen können, nichts von bem was
das Leben erst reich und schön und
lebenswerth macht. Ich glaube, ich
würde gemüthskrank, wenn ich in ei
nem solchen Zimmer wohnen sollte,
mit einer so häßlichen bunten Tapete,
so geschmacklosen, schlechten Gerathen
und so scheußlichen billigen Bildern
und Nippsachen.
Weil Du es'von Kind an anders
gewöhnt bist, meinte seine Mutter.
Diese Leute kennen es doch nicht an
ders und empfinden bie Häßlichkeit
ihrer Umgebung nicht, weil alle ihre
Bekannten ebenso wohnen.
Aber bas junge Mäbchen mit sei
nem ausgeprägten Schönheitssinn
fühlt ben Mangel unb leibet barutf
ter. Ihre kümmerlichen Versuche, we
nigstens die Ecke, wo ihr Schreibtisch
steht, mit nicht ohne Geschmack aus
gewählten Silbern aus Zeitschriften
ein wenig hübsch zu gestalten, rühr
ten mich orbentlich, besonders aber
ein Bild, das einzige gerahmte, das
den Ehrenplatz in der Mitte hatte. Es
war die Photographie eines jungen
Mannes, ihres früh verstorbenen Va
ters, wie sie mir sagte, ein interessan
ter Männerkopf, das schmale Gesicht
in Schnitt und Ausdruck dem der
Tochter sehr ähnlich, mit der hohen
freien Stirn und den dunkeln
Schwärmeraugen art Körner erin
nernd. Um dieses Bildnis? hatte sie
sehr nett unb sauber, aber ganz dilet
tantenhast, einen Kranz von wilden
Rosen in Wasserfarben gemalt, unb
darunter standen in schöngezeichneten
Buchstaben die Worte: Der Wahrheit
die Ehre! Der Titel eines unvollen
beten Romans ihres Vaters, ihr
Wahlspruch, wie sie mir erklärte.
Wenn Du gesehen hättest, Mutter,
mit welchem Blick voll schwärmen
scher Verehrung sie zu diesem Bilde
ausschaute, Du würdest dieses Mäd
chen gleich mit keiner Unwahrheit sä
hig halten. Mir erschien dieses Plätz
chen wie ein Altar, den eine fromme
Kinderseele ben höchsten Jbealen er
richtet hat.
Die alte Frau sah ihren Sohn
zärtlich an, boch schüttelte sie ben Kopf
zu feinen Worten. Wie er sich noch
begeistern unb erwärmen konnte! Du
Schwärmer, warnte sie, hüte Dich
nur, baß Du nicht wieber aus Deiner
eigenen Seele etwas in eine anbere
Hineinbichtest, was ihr vielleicht ganz
frentb ist.
Für Dora Gilbert begann jetzt et«
neues Leben. Morgens früh, nach»
bem sie ihr erstes Glas Milch getrvn
ken Hatte, wanberte sie burch ben Hof
garten bis zum Rhein unb faß wohl
auch eine Weile auf einer Bank, ba
sie noch immer schnell mübe würbe»
Wenn sie bann etwa zwei ©tunbett
in ber frischen Luft gewesen war. ging
sie langsam nach Hause, ruhte bort
ein wenig, trank ihr zweites GlaS
Milch, besorgte den kleinen Haushatt
und kochte das einfache Mittagessen,
während die Mutter stickte. Die bei
den Frauen lebten ordentlich auf, seit
sich für Dora eine unerwartete Ein
nahmequelle erschlossen hatte unb bie
drückendsten Sorgen wieder für eine
Zeitlang von ihnen genommen waren.
Das Schönste bei der Sache war,
daß diese Erwerbsquelle zugleich für
das junge Mäbchen eine Quelle rein
ster Freube bildete. Sie konnte Nach
mittags die Stunden kaum erwarten,
die sie jetzt regelmäßig bei Frau Ge
heimrath Rüdiger zubrachte. Der
Aufenthalt in den schönen Räumen
war schon für sie ein Vergnügen.
Manchmal war es auch so warm, daß
sie bis zum Abendessen draußen auf
der Terrasse sitzen konnten, die jetzt
zur Frühlingszeit einen entzückenden
Blick in die blühenden unb geünenben
Gärten gewährte.
Die glücklichste Stunbe be§ TageS
aber war bie nach dem Abendessen,
wenn Dora aus einem der herrlichen
Bücher vorlesen durfte, die der Pro
fessor meistens selbst für sie und feine
Mutter aussuchte. Für gewöhnlich
ging er nach Tisch sofort wieder in
sein Zimmer, um zu arbeiten, sehr
zufrieden, die alte Dame so angenehm
unterhalten zu wissen. Aber auch
wenn er eingeladen war oder in ben'
Maltasten ging, war er srofi, bajj'
feine Mutter nicht allein war, um
so mehr, als sie selbst bas junge
Mäbchen von Tag zu Tag lieber um
sich hatte. Mit Genugthuung beob
achtete sie, daß Dora schon nach eini
gen Tagen nicht mehr so elend aus
sah und daß ihr Appetit sich merklich
besserte, nachdem sie zuerst dem guten
Essen nur sehr wenig Ehre hatte an
thun können.
Die Unterhaltung war bei Tisch
immer sehr lebhaft, da Dora's In
teresse für Kunst und Kunstgeschichte
ben Professor häufig zu Erklärungen
ober auch zur Berichtigung einer irr
thümlichen Auffassung veranlaßte.
Bedurfte er zur Erläuterung einer
aufgeworfenen Frage ber Abbildun
gen, so kam es auch vor. baß bie Da
men ihm in fein Arbeitszimmer folg
ten unb bort eine Weile mit ihm
säuberten, währenb er feine Mappen
öffnete unb ihnen Silber unb Photo
graphien zeigte. Nach einiger Zeit
fragte er auch Dora, ob sie noch nichtS1
Neues geschrieben habe. Sie ver
neinte feufzenb mit ber Begrünbung»
baß ihr jetzt gar nichts einfalle.
Das schabet nichts, bemerkte er ba
rauf. Das Sammeln von neuen
Einbrücken, wenn es auch unbewußt
geschieht, ist vorläufig für Sie viel
nützlicher, als bas Niederschreiben ju
genblich unreifer Erzeugnisse Ihrer
Phantasie es fein könnte.
Als sie jedoch an einem Abend, dem
ein herrlicher Frühlingstag vorange
gangen war, voll Entzücken von ihrem
Morgenspaziergang im Hofgarten er»
zählte sagte er: Versuchen Sie einmal
die Stimmung eines Frühlingsmor
gens, wie Sie ihn soeben mündlich
recht anschaulich geschildert haben, auf
dem Papier festzuhalten. Nehmen
Sie morgen früh ein Heft und einen
Bleistift mit, setzen Sie sich auf eine
Bank und skizziren Sie in flüchtigen
Umrissen, was Sie sehen. Sprechen
Sie aber nicht im Allgemeinen von
Bäumen, Blumen unb Vögeln, unb
Sie werben sehen, wie die Schilde
rung an Anschaulichkeit gewinnt. Lä
chelnd fügte er hinzu: Ob das freilich
der richtige Weg ist, der Sie zum
Schriftstellerruhm führt, das kann ich
Ihnen nicht versprechen. Jedenfalls
lernen Sie babei, unb das schadet nie
mals.
So wanberte Dora am nächsten 1
Morgen in den Hofgarten, in der lob
lichen Absicht. Rüdigers Vorschlag
auszuführen, dessen Nützlichkeit anzu
zweifeln ihr vermessen erschienen
wäre, da bie Unfehlbarkeit bes Pro-
sessors in allen Fragen der Kunst unb
Wissenschaft sie über jeben Zweifel er
haben dünkte.
Wie schön war es auch heute wieder i
in dem im ersten frischen Schluck des
Frühlings Prangenden Park, ber mit 1
feinen schattigen Alleen unb prächti
gen alten Baumgruppen, mit seinen
weiten grünen Rufenflächen und spie
gelnden Teichen der Stolz ber Dussel
borscr Bürger ist. Noch vor einem |j
halben Jahrhunbert ganz außerhalb
ber kleinen Malerstabt vor ihren Tho
ren gelegen, ist er allmählich ber Mit
telpunkt bet schnell emporblühenben
Großstabt geworben. Zu bem lebhaf
ten Getriebe ber umliegenben Straßen
bilbet bie Ruhe unb Stille bes Hof
gartens einen erquickenben Gegensatz,
besonbers in ben frühen Morgenstun»
ben, wenn bie Sckiaaren ber Kinber
mäbchen mit ihren Schützlingen noch
nicht erschienen sinb.
(HortseHU! folgt.)
I a u e n v e e i n a u
(zu einer anbern): Das muß ich ja
zugeben, mein Mann finbet sich
in alles brein,... nur mit bem Wä-.
schema scheu, da hapert's bei ihm noch
statt?!
I
I

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