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Der Staats=Anzeiger. (Rugby, N.D.) 1906-current, April 07, 1910, Image 9

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Me air irrgrtm...
9mm von E. ftriâtitx%
(18. Fortsetzung.)
Mehr noch als der bittere Juhält
Ihrer Worte erschreckte Hartkopf der
Ton, aus dem unsägliche Bitterkeit
«ch Muthlosigkeit klangen.
„Wie meinen Sie daS, Anita?"
fragte er zögernd.
„Haben Sie geahnt, daß Brigitte
v. Steltz eine Drewensberg und eine
Cousine von Eberhardt v. Drewens
berg ist?-
Eine Sekunde verging, ehe Hart
topf antwortete, dann sagte er ruhig
und fest: „Ich habe es gewußt,
Anita."
„Sie ... Sie haben es gewußt?"
„Halten Sie es für möglich, daß
ich einem fremden Menschen einen so
weitgehenden Einfluß auf Sie und
Ihr Leben gestattet haben würde, ohne
über seine Persönlichkeit auf das Ge
naueste unterrichtet zu sein?"
Sie Horte nicht die ehrliche Hingabe
ans seinen Worten, sie empfand nur
das Ein« und sprach es aus:
„Also auch Sie, Hatto? Eigent
lich hätte ich es wissen können! Nun
6te ich ganz allein!"
„Sie hätten es allerdings wissen
können, daß der alte Hartkopf nicht un
thätig verharrt, wenn sich ein großer
Wendepunkt in Ihrem Leben vorberei
tet, wie Sie es wissen müssen, daß es
keine Wendung zum Schlechten sein
kann, wenn der alte Hartkopf mitthut.
Allein sind Sie nicht! Im Gegen«
theil, Sie haben nie in Ihrem Leben, so
viele wahre Freunde gehabt wie eben
Mt.
„Freunde?" fragte sie mit bitter ver
.zögenen Lippen. „Die mich hinter
gehen!"
„Die Ihr Glück wollen!"
„Kann das das rechte Glück sein,
das sich durch einen Betrug bei uns
einzuschleichen sucht?"
„O Kind, gar mancher Mensch gebt
an seinem Glück blind vorbei, und es
wäre ihm gut, wenn es ihm Jemand
aufzwange, so oder so!"
„Ich stehe jetzt vor euch bettelarm
das ist euer Glück für mich! Ihr habt
mich vor mir selber erniedrigt, habt
mir das Vertrauen auf Welt und Men
schen und, was schlimmer ist, auf mich
selber zerstört. Ihr habt auch geholfen,
mich zu einer pflichtvergessenen Mutter
?hr
iu machen all' meinen Stolz habt
vernichtet und da soll ich euch
Freunde nennen?"
„Lassen Sie sich doch erklären,
Hind—"
„Um Gottes willen, Harto, muthen
Sie mir die Tortur nicht zu, noch ein
mal alles durchzukosten. Ich habe die
ganze Nacht Zeit dazu gehabt und
ich weiß alles, was Sie mir sagen
könnten. Ich sehe jetzt ganz klar.
Damals, als ich Eberhardt v. Dre
wensberg mein Haus verbot, hat Ihre
Verbindung mit ihm angefangen, seit
dem gehören Sie zu den DrewensbergS.
Das genügt für mich. Sie kommen
ja sicher mit Brigitte zusammen da
bitte ich Sie, ihr zu bestellen, daß ich
sie nicht mehr sehen kann."
„Sie thuit ihr bitter unrecht."
„Und wenn ich es thue! Erfahre
ich nicht unausgesetzt unrecht von allen
Seiten? Soll und muß ich denn
stets allein leiden? Ich habe immer und
immer wieder gebeten, laßt mich mei
nen Weg allein gehen, laßt mich mit
meinem Kinde still für mich leben!
Ihr habt meiner Bitte nicht Gehör ge
geben, jetzt bitte ich nicht mehr, ich for
dere und handle!"
Und da war nichts zu machen.
tm
artkopf mußte gehen, ohne daß es
gelungen war. auch nur den ge
ringften Einfluß auf ihren Entschluß
auszuüben.
Als er am Nachmittag wiederkam,
hörte er von der Mutter Müllern zu
seinem Befremden, Anita sei ausgegan
gen. Heini hing sich sofort an ihn.
„Väterchen Harto, warum hat Mutti
wieder so geweint? Sie hat mich so
gedrückt, daß es ganz weh that, Väter
chen. Und Mutti hat gesagt, sie will
auch ganz gewiß nicht wieder von Heini
fortgehen, und nun ist sie doch schon
wieder gegangen."
„Sie kommt sicher bald wieder,
Heini, und inzwischen bleibe ich bei
dir."
ES dauerte jedoch lange, ehe sie kam,
aber sie schien zuversichtlicher als am
Morgen, und eine leise Rothe der Er
regung lag auf ihrem blassen, müden
Gesicht.
„Ich fand in der Zeitung eine Mu
siklehrerinnenstelle an einem großen
Pädagogium ausgeschrieben, da habe
ich mich zu einer Prüfung persönlich
vorgestellt und die Stelle auch sofort
erhalten." erzählte sie ohne jede Einlei
tung, als ob sie von etwas Selbstver
ständlichem und längst Beschlossenem"
spräche. „So werde ich doch endlich
.auf eigenen Füßen stehen können!"
„So!" sagte Harto in seiner bedäch
tigen Art, ohne ein Erstaunen zu ver
rathen. „Welches Konservatorium ist
.das?"
è „Sie kennen es nicht, Harto. Es
Befindet sich nicht in Berlin. Nur der
Direktor weilt in Geschäften äugen
blicklich hier. Es liegt sogar ziemlich
weit entfernt. Ich sage aber nicht eher
seinen Namen, als bis ich auf dem
Bahnhofe biy, um abzufahren. Ach
will fortan allein nach meinem eigenen
Ermessen handeln."
„Das ist Ihr gutes Recht! Alt ge
nug sind Sie dazu, und sobald der
alte Hartkops weiß, daß er überflüssig
ist, geht er ganz von selber."
„So ist das nicht gemeint, Harto!
Sie wissen doch, daß ich gezwungen
bin, von hier fortzugehen, aus dem
Bannkreis der Familie Drewensberg,
daß ich zeigen muß, ich vermag aus
eigener Kraft für mich und mein Kind
zu sorgen."
„Ich weiß eS zwar nicht, sehe eS auch
nicht ein, halte es im Gegentheil für die
größte Unklugheit, die Sie begehen
können, aber, wie gesagt, Sie sind
alt genug, um nach eigener Fasson selig
zu werden."
„Ja, Harto, und ich kann mich darin
nicht beirren lassen. Seien Sie mit
nicht böse Sie haben mir sehr wehe
gethan, aber ich weiß, es geschah auS
Liebe."
„Danke sehr!" sagte Hartkopf mit
ironisch verzogenen Lippen. „Im
Uebrigen aber: Der Mohr hat seine
Schuldigkeit gethan
„Väterchen
Er machte eine energisch abwehrende
Bewegung mit der Hand und begann
seiner Gewohnheit nach langsam im
Zimmer auf und ab zu wandern. Eine
Weile war es still zwischen ihnen, bis
plötzlich Heini feinen Krauskopf zur
Thür hereinsteckte und wichtig fragte:
„Mutti, wann kommt Tante Gittachen
heut?"
„Die kommt heute gar nicht, Lieb
ling."
„Och, warum denn nicht? Sie hat
doch versprochen, mir Knallbonbons
von der Frau Gräfin mitzubringen."
„Sie kann nicht kommen, mein Kind,
sie ist verreist."
„Och, Mutti, alle sind immer ver
reist. Kommt sie denn morgens*
„Ich weiß es nicht."
„Aber du mußt es doch wissen! Sie
hätte dir doch die Knallbonbons mit
geben können."
„Das hat sie wohl nur vergessen."
„Aber sie soll doch lieber selber kom
men, Mutti."
Es kostete Mühe, den kleinen Mann
von seinem Thema abzubringen, und
als er endlich wieder in seinem Spiel
zimmer verschwunden war, sagte Anita
zu Hartkopf: „Da sehen Sie doch, Va
ter Hartkopf, daß ich fortgehen muß
von hier."
Er blieb vor ihr stehen und maß sie
mit einem durchdringenden Blick. „Sie
lügen nicht, Anita o nein! nicht
einmal einem kleinen Kinde."
Sie fuhr sichtlich zusammen. „Ich
befinde mich in einer Zwangslage,
Harto. Es ist zu Heinis Bestem."
„Das sagt Jeder, der zu einem Be
trug feine Zuflucht nimmt. Wie denn
aber, Anita, wenn das Kind nicht ein
sehen sollte, daß es zu feinem Besten
ist, und Sie eines Tages zur Verant
wortung zieht dafür, daß Sie es belo
gen haben?"
„Um seiner selbst willen das muß
Heini anerkennen, Hatto."
„O nein, wit haben Ihnen gegen
über um Ihrer selbst willen gehandelt,
Sie thun eS nicht für das Kind, son
dern nur aus Eigenliebe."
„Harto!" stieß sie mit fliegendem
Athem hervor. „Sehen Sie denn das
nicht ein, daß es kein sichereres Mittel
gäbe, des Kindes Aussichten für im
mer zu zerstören, als wenn ich mich sei
nem Großvater entgegen auf die Seite
der Partct Eberhardts stellen wollte?"
„Ich sehe nur ein, daß Ihr gekränk
tet Stolz Sie blind und taub macht ge
gen das, was Ihnen und dem Kinde
noththut. Sie sind noch nicht reif, sich
selber zu Besiegen."
„Und ich sehe, daß wir uns nicht
mehr verstehen, und auch mein letztet
Freund sich gegen mich kehrt!" klagte
sie.
Et zuckte die Schultern und schwieg.
Daß er sich verstohlen an den Augen
wischte, sah sie nicht.
Ihre Hoffnung auf eine kurze Ruhe
ftist bis zur Auseinandersetzung mit
ihrem Schwiegervater erfüllte sich.
Zwei Tage vergingen äußerlich eteig
nißlos für Anita. Hartkops kam und
ging wie gewöhnlich, aber die alte
Herzlichkeit zwischen ihnen war gestört.
Anita konnte fich des leisen Miß
trauend, daß Hartkops nach wie vor
mit den Drewensbetgs in Verbindung
stände, nicht erwehren, und et war be
müht, das sie schmerzlich berührende
Thema zu meiden. So verkehrten sie
immer unter innerem Vorbehalt mit
einander und litten beide darunter.
Brigitte hatte, von Hartkops dazu
veranlaßt, gar nicht erst versucht. Anita
zu sprechen. Das dankte ihm Anita im
Hetzen. Des Morgens fragte sie sich
voll Bangen: „Wird heute der Schlag
auf mich herniederfaufen?" Und des
Abends ging sie mit Grauen vor dem
kommenden Tag zur Ruhe. Am dritten
Tage endlich geschah das Gefürchtete:
Ein Brief vom alten Baron traf ein,
diesmal von ihm selber geschrieben.
Der erste Brief von feiner Hand, bisher
hatte et nur durch feinen Rechtsanwalt
mit ihr in Verbindung gestanden.
Sie zitterte vom Kopf bis zu den
Füßen, als sie den Brief in Händen
hielt. Alles Blut drang ihr zum Het
zen. Sie wog ihn in den Fingern, als
ob sie dadurch feinen Inhalt feststellen
könnte, lief zur Thür und schob den
Riegel vor, und nun erst riß sie mit
fliegenden Händen den Umschlag aus.
Anfangs tanzten ihr die Buchstaben
vor den Augen durcheinander. Sie
mußte zlvei-, dreimal lesen, bis sie den
Inhalt ersaßt hatte.
Der Brief war ersichtlich in der
größten Aufregung geschrieben, unmit
telbar nachdem der Baron die Abreise
seines Sohnes erfahren hatte. Erst
von Bord des Schiffes aus, als es un
möglich war, ihn zurückzurufen, hatte
Eberhardt den Brief gesandt, und nun
war der Batet außer sich.
„Das haben Sie uns alten Eltern
angethan. Madame," schrieb er ihr.
„Sie haben uns unsere beiden Sohne
geraubt und in's Verderben gestürzt.
Der eine ist gestorben, nachdem Sie
ihn aus feiner glänzenden Kartiere ge
rissen und in ein Leben voll Entbeh
rungen gedrängt hatten, mit dem zwei
ten gedenken Sie Ihr Spiel schlauer zu
treiben. Meinen Sie, ich durchschaue
nicht die Komödie, die man mit jetzt
vorzuspielen sich bemüht? Man hofft,
daß ich mürbe werde, wenn man mich
kinderlos macht und man treibt die
Unverschämtheit so weit, mit noch zu
drohen, daß ich mich ja nicht unterstehen
soll, der Urheberin alles Leidens für
mich und meine Familie ein Härchen zu
krümmen. Nun, vorläufig bin ich noch
der Alte. An das Bemühen, Sie rein
zu waschen, verschwende ich nicht einen
Gedanken, aber meine Geduld ist jetzt
erschöpft. Ich werde sofort den
Rechtsweg beschreiten, der eine so un
würdige Mutter von der Erziehung
ihres Sohnes ausschließt. Sie werden
ihn binnen Kurzem auszuliefern haben,
und ich rathe Ihnen, erst keine Schritte
zu unternehmen, um sich dem Gesetzes
spruche zu entziehen. Es kommt auf
das Haupt Ihres Sohnes, wenn Sie
mich zum Aeußersten treiben."
Es überkam Sie eine Lähmung wie
ein Starrkrampf. Sie wollte schreien
und konnte es nicht, nach einem Halt
fassen und vermochte nicht, die Arme zu
rühren. Es wurde schwarz vor ihren
Augen in ihrem Kopfe war ein Stein,
der sie niederzwang. Schwer schlug sie
zu Boden, das Tischchen neben sich mit
reißend, daß schmetternd eine Vase zer
brach.
Man klopfte und rief an der Thür,
sie hörte es nicht man riß und polterte,
sie rührte sich nicht. Der Riegel gab
endlich nach, die Thür flog auf, und
Hartkops und die Mutter Müllern
stürzten herein.
Da lag sie wie todt Blut rieselte
von ihrer Stirn herab über das grau
gelbe, Ietchenhafte Gesicht. Ihre Hand
hatte sich fest um das zufammengeknit
terte Schreiben gekämpft.
Die beiden richteten sie auf, die Mül
lern mit Jammern und Thränen,
Harttopf mit fest zusammengepreßten
Lippen und unbeweglichem Gesicht, nur
im Auge fliegende Angst. Es dauerte
lange, ehe wieder Leben in die starre
Gestalt kam.
Als Altita die Augen ausschlug, gab
Hartkopf der Müllern einen Wink, zu
verschwinden. Er saß allein neben ihr
und hielt ihre Hand, während das Be
wußtsein allmählich bei ihr zurück
kehrte. Als sie ihn erkannte, jammerte
sie laut auf und versuchte jäh. sich
emporzurichten.
„Wo ist Heini, Hartkops? Wo ist
das Kind?"
„Er spielt in seinem Stübchen mit
feinen Attalaristen, Anita lassen
Sie ihn, er könnte erschrecken, wenn er
feine Mutti so sieht."
Sie sank zurück auf ihr Lager und
faßte nach ihrem schmerzenden Kopf.
Ein Tuch war um ihre Stirn ge
schlungen.
„Sie sind ein bißchen ohnmächtig ge
Wesen und haben sich beim Fallen eine
kleine Schramme zugezogen. Sehen
Sie, solche Geschichten machen Sie."
„O Harto wenn Sie wüßten
„Ich weiß. Ich habe Ihnen den
Brief da aus der Hand genommen und
gelesen, aber haben Sie etwas an
deres erwartet?"
„Das habe ich doch nicht erwartet,
daß der Baron gleich zum Aeußersten
schreiten würde. Alles habe ich Eber
hardt v. Drewensberg zu danken
damit beweist er feine Sympathien für
mich!"
Hartkopf schwieg. Er hätte ihr sa
gen müssen: „Sie haben es vor allen
Dingen sich selber zu danken, Ihrem
Eigensinn, Ihrer schroff ablehnenden
Haltung Eberhardt v. Drewensberg
gegenüber" aber er konnte es nicht
übet's Hetz bringen, ihr jetzt ein hartes
Wort zu geben.
„Kennen Sie das Gesetzbuch, Hatto?
Kann es so ungerecht abgefaßt fein,
daß es einem hartherzigen alten Mann
Mittel und Wege giebt, einer Mutter
ihr Kind zu stehlen? Muß der Ba
ron nicht den Beweis der Wahrheit für
seine Behauptung der Unwürdigkeit
seiner Schwiegertochter antreten?
Und das kann et nicht, Hatto das
kann er doch nicht! Was habe ich
denn gethan, was mich unwürdig
macht?"
„Et kann es nicht, und et wird es
nicht so weit kommen lassen! Seine
ganze Familie würde jetzt gegen ihn
auftreten und ihn Lügen strafen. Der
alte Baron ist auch viel zu stolz, um
vor der Oeffentlichkeit einzugestehen,
feine beiden Söhne hätten sich an eine
Unwürdige verloren. Also geben Sic
sich keinen schlimmen Befürchtungen
hin, Anita. Der Brief ist in der ersten
Hitze des Aetgets geschrieben, ein
Schreckschuß, um Sie einzuschüchtern
allerdings werden Ihnen schwere
aetniffe daraus erwachsen.*
„ö Hartkopf, die will ich tragen!
Alles will ich tragen, um mein Mut»
terrecht zu schützen. Ehe ich mich von
Heim trenne eher sterben wir beide,
Hartkops das schwöre
„Um Gotteswillen, halten Sie ein,
reden Sie nicht so frevelhaft und
feien Sie nicht ungerecht, Anita. Sie
sind außer sich, daß man Ihnen Ihr
Kind rauben will, und wehten sich mit
allen Waffen dagegen thut der Ba
ron etwas anderes? Müssen Sie
ihm nicht dasselbe Recht zuerkennen?"
„Ja aber er sucht sich zu schützen,
indem er einen Unschuldigen opfert.
Das ist unnobel."
„Und der, den Sie demselben Zweck
opfern ist er nicht gerade so schuld
los wie Sie?"
„Nein, Hatto, im Gegentheil, et ist
die Veranlassung, daß es so weit ge
kommen ist. Sie sind grausam,
Hatto, und ungerecht! Man hat
mich mit Füßen getreten, und ich habe
mich nicht gewehrt. Ich thue es auch
heute noch nicht für mich. Ich kämpfe
lediglich für mein Kind. Der alte Ba
ron aber möchte, daß ich ihm für den
Tritt noch den Fuß küsse. Nie, Hatto,
nie! Lassen Sie mich ausstehen, ich
will ihm schreiben, sofort! Er soll end
Itch einmal sehen, wie es einem Wurm
zu Muthe ist, den et bis zum Aeußer
sten^ gepeinigt hat."
Sie wollte sich erheben, aber Hart
köpf drückte sie energisch wieder nieder.
„Das werden Sie nicht thun," sagte et
mit großer Entschiedenheit. „Sie wer
den erst eine Nacht über ihren Zorn
vergehen lassen. Der Ueberetlung
Tochter ist die Reue."
„Ich werde morgen nicht anders den
ken wie heute, aber ich werde warten,
denn ich bin matt zum Sterben."
Es war gegen Abend. Anita
fühlte sich wohler zwar mußte sie
ihrer großen Schwäche wegen noch
liegen, aber der peinigende Kopf
schmerz hatte nachgelassen. Hartkopf
hatte gegen ihren Willen den Arzt ge
holt, der ihr unbedingte Ruhe verord
nete. Es könnte durchaus keine Rede
davon sein, daß sie in den nächsten
Wochen den Musikunterricht fortsetzte
oder überhaupt Musik treibe. Ihre
Nerven feien total überreizt. Am
besten wäre es, sie ginge auf's Land,
nicht in's Gebirge und nicht an die
See, einfach auf's Land, in eine wal
dige Gegend, wo sie still für sich leben
und sich gründlich langweilen könnte.
Sie hatte meist gelächelt und ver
sprochen, den Unterricht für die näch
ste Zeit aufzugeben. Auf den Vor
schlag, eine Erholungsreise anzutre
ten, antwortete sie erst Hatto, nach
dem der Arzt gegangen war.
„Daran ist natürlich nicht zu den
ken. Das Aufgeben der Stunden
läßt sich allenfalls bewerkstelligen. Ich
habe augenblicklich ja ohnehin fast
keine Schüler mehr, und in sechs
Wochen trete ich meine Stellung an.
Ich werde einstweilen desto fleißiger
wieder Photographien und Postkar
ten malen."
„Das wäre allerdings genau das,
was der Arzt für Sie wünscht," sagte
Hartkops ärgerlich. „Es ist eine
Thorheit von Ihnen, nicht auf's
Land gehen zu wollen, wo Sie so viel
billiger« leben als hier aber des
Menschen Wille ist fein Himmelreich."
15. Kapitel.
Anita lag auf dem Diwan. Zu
müde, um zu denken, aber innerlich
zu erregt, um zu schlafen, beobachtete
sie mechanisch, wie der röthliche Son
nenstrahl durch einen Spalt der ge
schlossenen Jalousie quer über das
Bild ihres Mannes fiel, langsam
zurückwich von der Brust herauf über
den Mund mit dem flotten Bärtchen,
über die schöne gerade Nase, die Au
gen mit dem sieghaft lachenden Blick
die weiße heitere Stirn, das Pracht«
volle weichgelockte Haar. Dann lag
alles im Schatten, nur eine Ecke des
goldenen Rahmens leuchtete noch grell
in der beginnenden Dämmerung.
Von der Straße herauf drängest
ungewiß allerhand Geräusche durch
das halbgeöffnete Fenster: das Rol
len der Elektrischen in einer Neben
straße, das Schreien und Lachen der
Kinder drüben in den Anlagen, ein
Händler rief vor Feierabend noch
rasch und unermüdlich in monotonem
Tonfall feine Waaren aus und dann
und wann klapperten Pferdehufe über
den Asphalt. Diese gedämpften,
gleichgültigen Geräusche hatten etwas
Beruhigendes, Einschläferndes. Anita
versank in einen Zustand halb Träu
mens. halb Wachens, in dem sie sich
losgelöst fühlte von allem Erdenjam
mer.
Sie kam erst wieder zum Bewußt
sein ihrer Umgebung, als draußen die
Korridorglocke gezogen wurde. Mehr
verwundert als erschrocken, lauschte
Anita. Kam Harto noch einmal, um
nach ihr zu sehen? Aber es war eine
Frauenstimme, die mit der Mutter
Müllern verhandelte nur ein kur
zes Hin und Her.
„Die gnädige Frau ist nicht zu
sprechen!"
„Sie müssen mich schon einlassen,
Frau Müller. Frau von Drewens
berg erwartet mich." Und da that
sich auch bereits die Thür auf und
herein trat Brigitte.
Anita richtete sich hastig auf, Ab
wehr in jeder Miene. Doch Brigitte
stand schon vor ihrem Lager uYtd
sagte äußerlich beherrscht, aber mit
einer vor innerer Erregung zitternden
Stimme:
„Ich weiß, Anita, daß Sie mein
Eindringen ftir taktlos halten und
mich hinausweisen möchten. Es
würde Ihnen aber nichts nützen, ich
werde tre^dem bleiben, denn ich
glaube ein Recht daraus zu haben.
Ich komme als Ihre getreue Freun
din, weil ich Sie lieb habe und eS
mich in der Seele schmerzt, Sie so
leiden zu sehen. Ihr abweisendes
Gesicht schreckt mich nicht, Anita!
Bitte, legen Sie sich still hin, ich setze
mich wieder hier an Ihre Seite und
sage Ihnen, was ich auf dem Herzen
habe."
„Sie können mir nicht verzeihen,
daß ich Sie mit einem falschen Na
men getäuscht habe..."
„Ich kann es gar nicht fassen, nicht
verstehen, wie man imstande ist, so
absichtlich und konsequent einen Be
trug durchzuführen."
„Meine liebe Anita, nachdem ich
mir das so viel Schwerere abgerungen
hatte, der Frau, die mir mein Le
bensglück raubte, die Freundeshand
zu reichen, war das andere nur eine
Bagatelle."
„Ich weiß. Sie haben durch eine
Frau schwer gelitten und sich doch ge
zwungen. ihr zu verzeihen. Das be
wundere ich an Ihnen aber was
geht das unsere Angelegenheit an?"
„Recht viel! Denn diese Frau
heißt Anita von Drewensberg."
Ein dumpfer Ton des Entsetzens
aus Anitas Munde. Sie schnellte
empor und starrte kleidebleich die
Freundin an. Der Athem fetzte ihr
aus. Sie hatte immer eine eigene
Scheu empfunden, an jene Frau zu
denken, sich davor gefürchtet, ihren
Namen zu hören, das aber der Eifer
sucht auf Brigittes Freundschaft zu
geschrieben jetzt wußte sie, daß es
das instinktive Grauen vor einer nie
derschmetternden Gewißheit gewesen
war.
„Hat Ihr Mann Ihnen nie von
feiner Cousine gesprochen? Sollte er
mich denn so ganz und gar vergessen
gehabt haben?"
„Von Maria von Drewensberg hat
er mir oft erzählt. Brigitte von
Steltz-Drewensberg habe ich nicht ge
kannt."
Es kostete Anita die größte Mühe,
die wenigen Worte hervorzubringen.
Die Kehle war ihr wie zugeschnürt
und ihr Herz schlug dang und schwer.
„Ich heiße Brigitte Maria. Bri
gitte ist mein Rufname, aber ich habe
ihn als Kind nicht leiden mögen und
mich selber Maria genannt. Das
hat die Familie aufgenommen, bei ihr
heiße ich bis auf den heutigen Tag
Maria."
Anita hörte kaum, was Brigitte
sagte. Die Gedanken jagten in ihrem
Kopf. Daß Heinz seiner Cousine
Maria eine große Verehrung wid
mete, hatte er ihr nie verhehlt, aber
daß sie die Verwandte sei, die er nach
Familienbeschluß heirathen sollte, da
von hatte er nicht gesprochen, über
haupt bereit Namen aus Taktgefühl
selbst ihr verschwiegen. Einmal, kurz
nach ihrer Verloung, hatte et ihr von
dieser projektirten Heirath erzählt.
Sie sah, daß et schwer bekümmert
darüber war, die Hoffnung der ihm
bestimmten Braut stören zu müssen,
das hatte sie auf's höchste erregt. Der
Gedanke, einer anderen Frau mit
älteren Rechten ihr Glück zu stehlen,
war so unerträglich peinigend für sie
gewesen, daß sie erklärt hatte, das
Verlobniß mit ihm rückgängig machen
zu wollen. Erst durch sein Ehren
wort, er habe die Verwandte stets
hochgeschätzt, aber nie geliebt und ihr
nie aus freien Stücken Hoffnung auf
feine Liebe gemacht, war sie beruhigt
worden. Er war auch nie wieder
darauf zurückgekommen, und sie hatte
in ihrem Glück die andere vergessen.
Jetzt brach die Scham über sie herein,
daß sie gedankenlos selig gewesen
war, während die verlassene Braut
alle Schmerzen der Entsagung durch
kämpfen mußte. Sie wagte nicht,
die Augen zu der Freundin aufzu
schlagen.'
Brigitte schien das nicht zu beach
ten. In durchaus beherrschtem Ton
fuhr sie fort: „Ich habe Ihnen schon
einmal gesagt, es hat eine Zeit gege
ben, in der ich an Gott und aller
Welt verzweifelte und nahe daran
war, Ihnen zu fluchen. Diese
schlimmste Zeit war vorüber, als Vet
ter.Eberhardt zu mir kam und mir
sagte: Hilf mit, sie zu gewinnen
du kannst es und du bist groß genug,
es zu wollen. Aber et irrte, so groß
war ich nicht, bet Frau, die ich für
meine schlimmste Feinbin hielt, bit
Hanb zu reichen. Ich wies ihn schroff
zurück. Et kam wieder, todtunglück
Itch. „Sie hat mich in Zorn und
Erbitterung fortgeschickt, es ist keine
Hoffnung, daß ich sie je versöhnen
kann. In deiner Hand liegt mein
Lebensglück, Maria, du bist die ein
zige, die Einfluß auf sie wird gewin
nen können, denn du bist selber in
Schmerzen gestählt und weißt, wie
eine wunde Seele behandelt werden
muß. Da konnte ich nicht länger
widerstehen. Kann es dein Schick
sal wenden, sagte ich zu mit, wenn
noch ein Mensch aufgeopfert wird?
Wirst du weniger schwer tragen in
dem Bewußtfein, deinen armseligen
Swlz gewahrt zu haben? Und so
kam ich! Schritt für Schritt, wie
eine Schwerkranke, bin ich die Trep
Pen zu Ihnen emporgestiegen, auf
jeder Stufe überlegend, ob ich nicht
noch einen Vorwand zur Umkehr fin­
den könnte. Den Klingelgriff hielt
ich in der Hand, bis Jemand kam
und ich nicht länger da stehen durfte,
ohne Verdacht zu erregen, und als die
Glocke dann schrillte, bin ich bis zur
Treppe zurückgeflogen, und ich dankte
hernach Gott, daß die Jalousien vor
den Fenstern Ihres Zimmers geschlos
sen waren und Sie in dem Halbdun
kel mein Gesicht nicht deutlich erken
nen konnten, denn ich wußte, ich sah
aus wie eine, die nicht völlig Herr
ihrer Sinne ist.
Aber dann kam der Tag, an dem
ich zum erstenmal Heinz' kleinen
Sohn an mein Herz drücken durfte
und von dem Augenblick an war
es vergessen, daß ich feiner Mutter je
gezürnt hatte.
Das übrige wissen Sie. Sie
können allein urtheilen, ob ich eine
wahre Freundin geworden bin und ob
Sie mich Ihrer Freundschaft für
würdig halten können, trotzdem ich
nicht aus geradem Wege zu Ihnen
gekommen bin. Aber, Anita, wenn
Sie mich auch wegschicken sollten, wie
Sie Eberhardt weggeschickt hoben, das
eine Recht, das einzige Glück, das
mir geblieben ist, lasse ich mir nicht
rauben ... Heinz' Kind zu lieben wie
mein eigenes. Und um des Kindes
willen rathe ich Ihnen, Anita, machen
Sie Flieden mit feinem Großvater.
Von Hartkopf weiß ich, daß Sie im
Begriff stehen, seinen Brief voll Er
bitterung schroff ablehnend zu beant
worten damit wäre dann wohl auf
lange Zeit jede Hoffnung auf Aus
gleich geschwunden. Ihr Schwieger
bater hat sie bitter gekränkt, aber
haben Sie ihm nicht auch einen schwe
ren Kummer zugefügt? Ob mit Ab
sicht oder nicht, das kann das Vater
herz in der ersten Heftigkeit des
Schmerzes nicht abwägen. Er meint,
Sie haben nach seinem Herzen ge
schlagen, und so zielt er auch nach
Ihrem. Sie werden nicht erwarten,
daß er still hält, ohne sich zu verthei
digen. Denken Sie daran, daß Sie
und Heinz auch gefehlt haben, als
Sie mit Gewalt auf einmal zu er
zwingen suchten, was Sie mit Geduld
und Nachgiebigkeit allmählich hätten
erstreben sollen und auch würden er
rungen haben. Wägen Sie am eige
nen Schmerz um Ihr Kind den
Schmerz des Vaters und denken Sie
auch an die Mutter, die sich in Sehn
sucht verzehrt, ihr Enkelkind die
Arme zu schließen. Trc: Sie
Ihren Gang nach Canossa a :. Ich
habe ein Recht. Ihnen das zu sagen,
denn ich bin vor Ihnen denselben
Weg gegangen, und Sie sind stärk::
und tapferer als ich. Und zögern
Sie nicht. Tante Zesina ist heute be
reits in heller Aufregung nach Dre
wensberg gefahren. Sie wird oen
Vetter mürbe machen, ich versichere
Sie. Wir alle stehen Ihnen bei.
Sie haben also nur nöthig, dem
Vater Ihr pater peccavi zu sagen."
Bis dahin hatte Anita mit zu Bo
den gerichteten Blick in sich zusam
mengesunken gesessen. Man hätte sie
für ganz theilnahmslos halten kön
nen. Jetzt kam plötzlich Leben in
ihre Gestalt. Sie hob hastig erschreckt
den Blick.
„Pater peccavi ich?"
„Ja Sie, Anita! Als Tochter,
die nicht frei von Schuld ist dem
Vater gegenüber, und als Mutter, die
gewillt ist, ihrem Sohn zuliebe ihren
Stolz zu opfern.
Antworten Sie mir jetzt nicht.
Ueberlegen Sie das reiflich und han
deln Sie nachher, wie Sie es sich
schuldig zu sein glauben. Ich habe
meine Pflicht gethan und werde Sie
nicht mehr beirren."
Und ehe noch Anita sprechen
konnte, war Brigitte in ihrer diskre
ten, geräuschlosen Art zum Ztntmet
hinaus.
Anita sank in die Kissen zurück.
Die Abenddämmerung war bereits
hereingebrochen, und sie hatten es
beide nicht bemerkt. Es war still auf
der Straße, so still um Anita, daß sie
meinte, ihr Herz schlagen zu hören.
Und sie lag und starrte mit offenen
Augen in das Dunkel und sagte wie
der und wieder laut vor sich hin:
„Pater peccavi" Pater pec
cavi", als ob sie sich an den Klang
des Wortes gewöhnen müsse. Unb
bann stöhnte sie auf wie ein todtwun
desThier und wühlte ihren schmerzen
den Kopf in die Kissen.
Sie hatte viel zu begraben und zu
vergessen in dieser einen Nacht
aber als die Morgensonne ihren ersten
Strahl in's Zimmer schickte, da war
das schwere Werk vollbracht. Ihr
Swlz lag besiegt am Boden.
Das Leben auf der Straße war
kaum erwacht, im Hause schlief noch
alles, als Anita sich erhob. An'S
Bettchen des Kindes trat sie und küßte
ihren Liebling sacht auf die Stirn.
„Um deinetwillen, mein Alles unb
weil ich nicht kleiner fein barf a 13
beine Tante Maria, bet ich ihr Lieb
stes gestohlen habe. O Gott! Wo
soll ich anfangen, „pater peccavi"
zu sagen? So vielen habe ich Grund
gegeben, mir zu zürnen, unb habe
doch mit Absicht keinem weh thut
wollen."
Sie setzte sich an den Schreibtisch
und schrieb lange. Das that ihr wohl
und gab ihr ein Gefühl der Befrei
ung. Und als dann Hartkops kam
und ihr mit einem unruhig forschen
den Blick in's Gesicht sah, streckte sie
ihm mit trübem Lächeln beide Hände
entgegen.
Entsetzung folgt).

^taats-AnzelM MM, MP., den 7. «pM^ ISM.

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