Der Xrilmlliiipf.
(9. Fortsetzung.)
23. Kapitel.
Tom ersinn» ein Märchen.
Tom besaß eine gesellige Natur
jetzt aber sehnte er sich nach einer cm*
somen Stunde. Er mußte sich sam
mein, um sein« innere Ruhe wieder
zu gewinnen. Daher beschloß er. noch
nicht gleich zu Fountain zu gehen
fühlte er sich doch so verwirrt und
bestürzt, daß er kaum wußte, was er
diesen eigentlich fragen wollt«. Die
herbe Enttäuschung, welche ihm der
heutige Tag gebracht hatte, die Ent
Deckung, daß er um ein Haar ein«
Anklage gegen einen völlig unschuldi
gen Mann erhoben und somit nahe
daran gewesen, seinen Ruf als ein
findig«? Enthüller dunkler Verbrechen
einzubüßen, schmerzte ihn tief. Ihm
war zu Muth, als habe ihm Jemand
einen betäubenden Schlag auf den
Kopf gegeben. Er empfand es als
eine Schande, eine solch« Schlappe er
It (ten zu haben und so lange einer
grundfalschen Fährte nachgegangen zu
sein.
Der beängstigende Gedanke, daß
sein Geist seine frühere Leistungsfä
higkeit eingebüßt habe, befchlich ihn.
War seine Niederlage stadtbekannt,
so würd« er unfehlbar für sämmtli
che Polizeibeamte eine Zielscheibe des
Spottes. Das große Heer der Jour
nalisten wies mit Fingern auf ihn,
die Sckaar der Detektivs brach in ein
lautes Hohnaelächter über seine Blind
heit aus, das wußte er im Voraus.
Wo immer er sich zeigen würd«, da
war er sicher, aufgewogen und g«hän
felt zu werden. „Mein auter Rom«
ist dahin, sobald mein Mißgriff öf
fentlich wird." sagt« er sich in bitterer
Selbstanklage. „Ich kann mich dann
vor den Sticheleien meiner Bekannten
nur noch durch eine schleunige Flucht
aus New 9)ork retten."
Nach und nach stumpfte sich sein
Ingrimm ein wenig ab trostreiche
Gedanken tauchten in ihm aus und
besänftigten ihn. Bis jetzt wußte
ja noch keine Seele außer Holbrook,
wie es ihm ergangen war. und daß
dieser schweigen werde, davon konnte
er überzeugt sein. War es nicht bes
fer, alle Reue hinter sich zu wer
fen und mit frischem Muthe die Ar
beit aufs Neue zu beginnen? Ja.
gewiß!
„ES ist noch nicht alles verloren!"
meinte er. „Jäh darf nur nicht den
Kopf hängen lassen. Frisch gewagt
ist halb gewonnen! Das beste ist. ich
suche jetzt meinen Schatten auf und
gebe ihm einige Ferientage, während
welcher ich einen neuen Plan fchmie
be."
AIS er in di« Nähe des Stadthau-
seS fam, sah er den alten Winkel
advokaten George Parker aus diesem
Gebäude kommen.
„Ei, sieh doch!" dachte er in seinem
Sinn, „dort ist ja der Freund mei
nes Schatten! Wie eine alte Nacht
eufc schleicht er umher. Ich glaube
gewiß, er hat soeben in seinem eigenen
Interesse und in dem Interesse seines
verkommenen Schützlings einenErban
spruch auf den Pierson'fch«n Nachlaß
erhoben. Sollte das der Fall fein,
so wird er hoffentlich mit einer lan
gen Nase abziehen."
Diese Aussicht stimmte Tom freudi
get und brachte ihn auf den Gedanken,
oen Advokaten anzureden. „Jeder
Mensch, der mit einem Vermögen in
Zusammenhang steht, kann möglicher
weise meine Arbeit fördern," meinte
er.
Parker wollte an Tom vorüber ge
hen, aber dieser hielt ihn fest. „Gu
ten Tag, mein Herr!" sagte er keck.
„Wie ich hör«, hat einer ihrer Klin
ten Namens James Preston auf ihre
Veranlassung dem Surrogaten"
dem mit d«r Jurisdiktion der Erb
fchaftssachen betrauten Grafschaftsbe
amten— „angezeigt, daß er sich für
den nächsten Erben des Pierson'schen
Vermächtnisses halte. Ist diese Mit
tHeilung richtig?"
Der Alte warf ihm einen miß
trauischen Blick zu und forschte mür
risch:
iJBter sind Sie?"
»Ich heiße Bryan und bin der
Hauptreporter des „Sol"."
»Ach so?" erwiderte Parker freund
lich grinsend. „Dann ist es freilich
erklärlich, daß Sie meinen Braten so
schnell witterten. Einem Reporter
kann man nichts verbergen. Uebrigens
ist das betreffende Gesuch erst vor
$i*
tter Stunde eingereicht."
„Es freut mich, daß Sie mich und
meinen Beruf nach Gebühr zu wür
digen wissen. Darf ich fragen, ob
Sie im Stande waren, jene Einfprü
che genügend zu begründen?"
„Gewiß! Sonst würde ich meinem
Klienten nicht gerathen haben, sie zu
erheben. Sie werden mir doch nickt
zutrau-n, daß ich die Absicht hege,
ihn lächerlich zu machen. Etwas
Näheres kann ich Ihnen jedoch nicht
über die Sache mittheilen, zumal
dies Gesuch nickt von mir. sondern
von einem anderen Anwalt ausgesetzt
ist und ich demnach kein Recht habe.
Ihnen Mittheilungen daraus zu ma
che». Mens Sit also yoH mfy
zu erfahren wünschen, so klopfen Sie
vergebens auf den Busch, junger
Herr."
„So!" sagte Tom lachend. „Wäre
c8 nicht denkbar, daß auch ich manches
weiß, das Ihnen von Nutzen sein
könnte? Sie kennen doch das Sprich
wort: „Eine Hand wäscht die andere!"
nicht wahr?"
Der Alte sah ihn neugierig an.
„Was meinen Sie mit dieser Be
meriting?' forschte er. „Was wis
sen Sie von der ganzen Erbschafts
angelegenheit?"
„O, ich weiß zum Beispiel, daß ver
vergoltene Pierson ein Don Juan
war" sagte Tom, eine geheimnisvolle
Miene annehmend.
„Ein Don Juan? Unmöglich!"
„Ja, ja er hat nicht immer den
Namen getragen, mit dem «r sich auf
sein Sterbelager legte. Er ließ sich
vielmehr in jüngeren Jahren ganz
anders anreden."
„Aber wie?" fragte der Winkelad
vokat mit gespannter Aufmerksam
seit. „Sie müssen mir das sagen."
Tom schmunzelte. „Er nannte sich
Fountain!" erklärte er nach kurzem
Bedenken. Er griff diese Behauptung
iöllig aus der Luft. Sie entbehrte
jeder begründeten Unterlage.
„Wann und wo trug er den Namen
Fountain?" tief dyc Alte in hohem
Grade beunruhigt.
„Das ist ein Geheimniß, Herr Par
set. Bitte, reißen Sie mir meine
Rockknöpf« nicht ab. Lassen Sie
mich los."
„Nein nein, Sie sollen mir Rede
flehen! Offenbar sind Sie im Besitz
hofilrichtigtr Kenntnisse über die Der
aangenheit des Verstorbenen."
„Allerdings!" sagte Tom mit der
Miene eines hochweisen Mannes.
„Allein ich verrathe Ihnen nur noch,
daß dt! betreffend« Erblasser unter
bterem Namen verheirathet war."
Das Gesicht des Advokaten zog sich
in die Länge. Tom bemerkte das mit
einem Anf-ug von Schadenfreude.
„Hoffentlich stammen keine Kinder
aus jener Ehe."
„Doch wenn ich nicht irre, ist
ein Sohn und eine Tochter Vorhan
den."
„Eine Tochter!" wiederholte der Al
te, unwillig den Kopf schüttelnd.
„Seltsam, seltsam! Ich danke Ihnen,
Herr Bryan, für Ihr« interessanten
Mittheilungen! Bitte, begleiten Sie
mich «in Stückchen ich würde Ihnen
sehr dankbar s«in, wenn Sie mir noch
mehrere derartige Aufklärungen g«b«n
wollten. Es versteht sich von selbst,
daß ich Ihnen sobald als möglich
einen Gegendienst leiste."
Tom fühlte, daß er nahe daran
war. in eine Klemme zu gerathen.
Seine Niederlage war in eine Art
von Galgenhumor umgeschlagen und
dieser hatte ibn dazu angestachelt, dem
Spitzbuben Parker einen kleinen
Streich zu spielen, indem er ihm eine
Fabel erzählte, die ihn beunruhigen
mußte.
Doch durfte er sich auf diesem Ge
biete nicht weiter wagen, daher sagte
er: „Leider bin ich außer Stande.
Ihnen auch nur noch ein« Viertelmi
nute zu schenken. Ich habe eine drin
gende Verabredung mit einem Freun
de getroffen und fürchte, bereits zu
spät zu kommen."
„Werden Sie mir dann vielleicht
diesen Abend ein Stündchen gönnen?"
„Auch das kann ich Ihnen nicht
versprechen. Ich bin versagt."
„lind wie ist es mit morgen?"
„Offen gestanden, Herr Parker, ich
habe sehr viel zu thun. Heute ist
Donnerstag ganz recht wollen
Sie sich bis nächsten Montag gedul
den, so stehe ich herzlich gern zu Jh
ren Diensten. Ist es Ihnen recht,
mich an jenem Tage hier an dieser
Stelle zu treffen?"
„Ich werde nicht verfehlen, mich
einzustellen, und rechne mit Sicher
heit darauf, daß Sie Ihr Wort Hal
ten. Doch wollen Sie Ihrer Gü
te noch die Krön« aussetzen, so geben
Sie mir den Wohnort jenes Herrn
Fountain an, den Sie mir als den
Sohn des verstorbenen Pierson be
zeichneten."
„Ich erfahre ihn selbst erst in die
sen Tagen. Warten Sie bis Mon
tag, bann theile ich Ihnen die ge
sammte Füll« meiner Weisheit mit.
Auf Wiedersehen, Herr Parker!"
Tom eilte fort. Er war froh, ein
Gespräch abzubrechen, welches nur in
folge seiner Meinung zu Schelmen
streichen einen so eigenartigen Verlauf
genommen hatte.
„Ich muß mir eine hübsche Fort
fetzung des Märchens ausdenken," sag
te er sich, „sonst wird der alte Hals
abschneide? knurren. Vielleicht er
gründe ich bei dieser Gelegenheit auch
etwas Wichtiges. Meine Flunkerei
hat ihn sehr beunruhigt, das merkte
ich ihm an. Warum aber? Laß ein
mal sehen! Er hat ein Gesuch mit der
Angabe eingereicht, daß sein Schütz
ling, der Trunkenbold Preston, der
Bruder des verstorbenen Pierson sei.
Ist diese Behauptung richtig, so trägt
oder trug einer von beiden einen an
genommenen Namen. Wahrscheinlich
der Erblasser, denn meine Erklärung,
daß dieser sich Fountain genannt ha
be, brachte Parker ganz aus dem
Häuschen. Auch erschreckte ihn die
Erwähung, daß der Verstorbene Frau
und Kinder hinterließ. Hm!"
In diesem Augenblick kam ein nam
hafter Rechtsgelehrter daher, welcher
stets ein großes Wohlgefallen für
ÄM an den Tag gelebt hatte. Er
blieb stehen und fragte: „Nun. jun
ger Freund, wie geht'S, wie steht's?"
„Ich befinde mich in der mißlichen
Lage, meinen Mangel an juristischen
Kenntnissen als eine wesentliche Lücke
in meiner Ausbildung schmerzlich zu
empfinden," antwortete der allezeit
schlagfertige Tom.
i
„Vielleicht kann ich jenes Unbehagen
tilgen," muthrnoßte der Gelehrte mit
freundlichem Tone.
„O, wenn Sie mir Ihren Scharf
stmt für einen Augenblick leihen woll
ten, so wäre ich geborgen!" rief Tom
ungemein vergnügt.
„Rücken Sie getrost mit Ihrem
Anliegen heraus." lautete die ermu
thiaende Antwort.
Tom erzählte nun mit Abänderung
der Namen den ihn beschäftigenden
Fall. Er sagte: „Ein gewisser John
Smith heirathete nach Annahme des
Namens Jakob Brown ein junges
Mädchen. Doch verließ er sie nach
einiger Zeit und führte in einer an
dern Stadt als John Smith ein
Junggesellenleben. Er starb vor
Kurzem mit Hinterlassung eines be
trächtlicken Vermögens. Sind die
aus jener Ehe entsprossenen, dem Fa
mtltcnnamen Brown tragenden Kin
der erbberechtigt? Können sie einen
Anspruch auf den gefammten Nach
laß erheben?"
„Ja, wenn nicht etwa auch noch
Nachkommen aus einer andern, früher
geschlossenen Ebe vorhanden sind."
„Es sind kein« da."
„Gut, dann käme es also nur da
rauf an, den Nachweis zu führen,
daß John Smith und Jakob Brown
die nämlickie Person waren. Ist das
möglich, so würde ich der Wittwe und
den Kindern rathen, mit ihren Erb
ans brücken bervorzutr«t«n."
..Dock gesetzt, ein Bruder des Erb
lassers wäre am Leben. Würde das
die Sachlage ändern?"
„Nicht im mindesten. In derarti
gen Erbschaftsfraaen treten die Ge
schwister hinter die Kinder zurück."
„Ich danke Ihnen!" rief Tom leb
haft. „Ihre Auskunft ist mir sehr
lehrreich."
Der Staats Anzeiger. Bismarck, R. D. bett 16. $»ft.
Der Rechtsgelehrte reichte Tom die
Hand zum Abschied und aing in ein
Haus. Der Reporter sah ihm schmun
zelnd nach. „O. jetzt durchschaue ich
den Grund des Mißbebagens. in das
mein Märchen den alten Fuchs ver
fekte! Er hält es offenbar für mög
lich. daß mein« Erdichtung Wahr
heit ist er traut dem verstorbenen
Pierson ein abenteuerliches Leben zu
und fürchtet, daß sein sauberer Klient
bei der Vettheiluug der Erbschaft
leer ausgehen wirb
Tom hatte durch dieses Erlebniß
seine gute Laune wieder gewonnen.
Er suchte nunmehr seinen Schatten
auf und erfreute diesen durch die
Mitteilung. daß er ihm einige Fe
rientag« schenken wolle. Sodann be
schloß et, mit Fountain zu sprechen
doch gedachte er dies nicht in dessen
Haufe, sondern in einem öffentlichen
Lokale zu thun.
24. Kapitel.
Holbroo? empfindet eine Steigerung
feiner Arbeitskraft.
Der Besuch bei Flora Ashgrove hat
te eine bedeutsame Thatsache ans Licht
gebracht doch ward dieselbe nicht in
ihrem vollen Umfang von Holbrook
gewürdigt, da dieser seine ungeteilte
Aufmerksamkeit auf die Ergründung
der Zusammenhänge richtete, welche
zwischen Fountain, dem ermordeten
Templeton und txm Erblasser Pier
son bestanden haben mußten.
Holbrook war fest davon durchdrun
gen. daß er durch die Entdeckung die
fer verborgenen Beziehungen mit ei
nem Schlag die Lösung des gesamm
ten Räthsels erlangen werde. Aus
diesem Grund legte er kein sonderli
ches Gewicht auf den Umstand, daß
der Eigenthümer des Brillantknopfes
gefunden zu fein schien.
Daß Flora ihm bei seiner Nach
forfchung ihre Unterstützung verwei
gerte. fand er begreiflich. Er hätte
es für unrecht gehalten, wenn sie sich
von ihm hätte bewegen lüssen. ihm die
Geheimnisse ihres Verlobten preiszu
geben. Uebrigens konnte er ja. was
er über Fountain zu wissen wünsch
te, sicherlich ohne sonderliche Mühe
von diesem direkt erfahren. Sr be
schloß, die Sacke mit Tom zu be
sprechen und diesem einige Fingerzei
ge für seinen Verkehr mit jenem jun
gen Mann zu geben.
Wo aber mochte, der Reporter in
dieser späten Nachmittagsstunde sich
aushalten? Er ahnte es nicht, und in
seiner Wohnung fand
er
keinen Men
schen, der es ihm hätte sagen können,
daher verschob er seinen-Bericht an
ihn bis $um folgenden Tag, und
wanderte, dem Zuge feines Herzens
folgend, zu Templetons. Er hatte
dabei die Absicht. Annies Mutter zu
fragen, ob der Testator Pierson mit
ihrer Familie verwandt gewesen sei.
Die Damen waren daheim. Sie
begrüßten ihn mit lebhafter Freude.
Holbrook fetzte sich zu ihnen und lenkte
das Gespräch alsbald auf das ihm
besonders ant Herzen liegende Thema.
Frau Templeton erwiderte ihm. sie
wisse mit Bestimmtheit, daß der Na
me Pierson im Kreise ihrer Angehö
rigen nicht vorgekommen sei.
Auch glaube sie nicht, daß sich un
ter den Verwandten ihres verstorbe
nen Gatten ein Familienmitglied die
ses Namens befunden habe. Ihres
Mannes einziger, in Amerika anfäf
siger» jetzt aber nicht mehr lebender
Cnk«I hat Templeton aebeißen. Sei
ne übrigen Verwanden wohnten in
England auch unter ihnen sei kein
Pierson zu entdecken. Seine Mut
ter sei eine geboren« Cölchstedter ge
wesen. Er habe mit seinen Vettern
und Cousinen nicht nur im Briefwech
fel gestanden, fondern auch von eini
gen freundschaftliche Besuche erhalten,
und daher sei sie über diesen Punkt
gut unterrichtet.
Um aber alle Irrthümer zu ver
meiden, erbot sie sich, die Kondolenz
brief« hervorzusuchen, welch« sie nach
dem Tod ihres Gatten erhalten hatte,
und di«s« sodann Herrn Holbrook zur
Durchsicht einzuhändigen.
Holbrook erkundigte sich darauf
nach dem Bruder ihres Vaters.
„Meine Kenntnisse über ihn sind
in hohem Grade dürftig!" erwiderte
Frau Templeton, „Ich weiß nur,
daß et seinen Eltern in jungen Jah
ren fortgelaufen ist. Als ich geboren
war, wußte Niemand in unserer Fa
milie, wo et sich herumtrieb. Man
hielt ihn allgemein für einen ver
kommen Menschen, und als die Nach
richt von feinem Tode eintraf, athme
te mein Onkel erleichtert auf. Ich
war damals noch ein Kind.
Holbrook erzählte ihr nun seiner
seits. daß er bis jetzt der Enthüllung
des Mordes noch um keinen Bedeut
samen Schritt näher gekommen sei
doch habe er vermuthet, daß ihr Gat
te oder ihr Vater in irgend einem Zu
sammenhang mit dem Namen Pier
son gestanden habe. Sollt« dies
der Fall gew«s«n sein, so würde sich
das Räthsel des gewaltsamen Todes
ihres Sohnes sicherlich bald gelöst ha
ben.
Seltsamerweise hatte Tom es un
terlassen, seinem Freund eine Mit
theilung des von seinem Schatten be
lausckten Gespräckes zwischen dem
Trunkenbold Preston und dem Win
keladvokaten Parker zu machen. Ohn«
dieses Versäumniß hätte Holbrooks
Unterredung mit Frau Templeton zu
einem lohnenden Ergebniß geführt.
Tom dachte in jenen Tagen, da er den
betreffenden Bericht von seinem ge
treuen Spion erhielt, daß er denMör
der in der Person Fountains gefun
den babe, und infolge dessen beachtete
er dessen Mittheilung kaum. So kam
es. daß.frolbrook soeben in die unmit
telbare Näbe hockst wichtiger Thatfa
chen gerathen war, ohne es zu mer
ken.
In dem Wahn, daß die Fortsetzung
dieses Gespräches ihm keinerlei Nutzen
bringen werde, suchte er die Unter
haltung auf einen andern Gegenstand
zu lenken, aber Anni«. die. ein hüb
sches Bild weiblichen Fleißes bietend,
eifrig stickend am Fenster saß. that
mit einem tiefen Stoßseufzer die Aeu
ßerung. es sei tieftraurig, daß die
Auffindung des Bösewichtes eine so
lange Zeit erfordere.
Holbrvvk empfand ihre Worte als
einen leisen Tadel. „Sie haben recht,
mein Fräulein!" antwortete er ihr.
„Es ist in Wahrheit betrübend, daß
wir trotz alles Forschens und Su
chens noch nicht weiter vorgeschritten
sind. Zehn volle Tage vergeudeten
wir, indem wir einem Phantom nach
jagten und einen völlig schuldlosen
Mann beargwohnten. Doch bitte ich
Sie inständig die Geduld nicht zu
verlieren. Unsere jetzige Arbeit wird
hoffentlich von einem b«sser«n Erfol
ge gekrönt werden."
Annie erröthete lebhaft. „O Herr
Holbrook," rief sie, „fast scheint es
mir. Si« glauben, ich wollte Ihnen
einen Vorwurf machen. Nichts liegt
mir ferner. Sind Sie doch so gü
tig. uns Ihre kostbare Zeit und Ihre
Arbeitskraft zu widmen. Wie un
dankbar würde es fein, wollten wir
Ihnen den langsamen Verlauf jener
unglückseligen Angelegenheit zur Last
legen!"
Holbrook hatte, während sie aus
sagte. seinen Stuhl in der Nähe ih
rer Mutter verlassen und sich auf ei
nen kleinen, niedrigen Sessel g«setzn,
der dicht neben dem ihrigen stand.
Frau Templeton wandt« sich wieder
der Beschäftigung des Briefschreibens
zu. welche sie unterbrochen hatte, um
mit Holbrook zu sprechen.
Der junge Rechtsanwalt stand jetzt
schon mit beiden Damen auf einem so
vertraulichen Fuß, daß sie ihn nicht
mehr mit jener Förmlichkeit behandel
ten, die man einem Fremden gegen
über auszuüben pflegt, sondern ihm
die Rechte eines Freundes einräum
ten, durch dessen Kommen und Gehen
man sich in feiner Arbeit nicht stören
läßt.
„Was immer ich auch in Ihrem
Dienste thue. Fräulein Templeton,"
sagte er mit dem Ton der größten
Aufrichtigkeit, „das ist für mich eine
Freude."
Annie fühlte, daß sich ihre Wangen
purpurroth färbten. Sie beugte sich
tief über die Arbeit und sagte nichts.
Holbrook schwieg auch er hatte das
von ihrem Schoß herunterhängende
untere Ende ihrer Stickerei in die
Hand genommen und spielte mit dem
selben. Nach einem Weilchen nahm
et wieder das Wort, indem er aus
rief: „Die Besuche, die ich Ihnen und
Ihrer Mutter mach«, sind für mich
eine Welt häuslichen Glückes sie wer
fen ihren verklärenden Schein in mein
dunkles Junggesellenleben und geben
ihm einen Reiz, den es bisher ent
behrte."
Annie sah ihn mit ihren großen
Augen erstaunt an. In dieser schwär
merischen Weife hatte er noch nie zu
'hr SSEjiätf
„O. das freut mich, daß Sie gern
zu uns kommen," sagte sie lebhaft.
„Doch, offen gestanden, wundert es
mich. Wir haben Ihnen ja nichts
zu bieten."
„Sie irren sich, mein Fräulein.
Si« hab«n mir vi«l, sehr viel zu bie
ten. Bedenken Sie doch nur einmal,
was es heißt, seit zwölf Jahren in
einem Hotel zu wohnen! So lange
meine Mutter noch lebte, befaß ich
doch wenigstens noch die Annehmlich
lest, hin und wieder einige Tage bei
ihr mich von meiner Arbeit ausru
hen zu können. Seitdem sie mir
aber vor acht Jahren entrissen ward,
habe ich stets nur als ein Fremder
unter Fremden gelebt. Wohin ich
komme in dem großen Kreis« meiner
Bekannten, überall behandelt man
mich zuvorkommend und mit ausg«
suchtester Höflichkeit. Aber außer Jh
nen habe ich nirgends das erquick«nd«
Gefühl, als ein Zugehöriger zur Fa
milie betrachtet zu w«rden. Und so
kommt es. daß ich nur hi«r in Ihrer
Nähe die Wund« nicht «mpfind«, die
mir der Tod meiner Mutter schlug."
Er hatte sehr erregt und mit steigender
Wärme gesprochen, und Annie's Au
gen füllten sich mit Thränen. Die
Einsamkeit seines Lebens schmerzte sie
auf's Tiefste, doch bemühte sie sich in
mädchenhafter Scheu, ihre Rührung
vor ihm zu verbergen.
„War Ihr« Mutter Wittwe als sie
starb?" fragte sie.
„Ja!" antwortete er. „Sie be
faß nur zwei Kinder, meine Schwe
ster und mich. Mein« Schwester ist
verheirathet, ihr Mann ist Gesandter,
sie leben in England."
„Es muß sehr bitter sein, kein El
ternhaus mehr zu haben, und hätte
ick, auch ein eigen Heim, das meiner
Mutter möchte ich um keinen Preis
missen," sagte Annie.
Unwillkürlich dacht« er bei denWor
ten daran, wi« traulich ein heimischer
Herd sein werde dessen Flamme von
ihrer Hand sein« Nahrung erhielt.
„In einer Beziehung sind die Frau
en glücklich«r daran als wir Män
ner!" fuhr er fort. „Sie ha ixn die
Fähigkeit jedes Zimmer wohnlich zu
gestalten ein Gemach, das nicht von
weiblichen Händen eingerichtet und in
Stand gebalten wird, hat stets etwas
Ungemüthliches. Ein Junggeselle ist
wabrlich zu bedauern."
Annie schaut« zu ihm empor und
lächelte schelmisch. „Warum geben
Sie Ihr einsiedlerisches Leben nicht
auf, wenn es Jhne.i so verhaßt ist?"
fragte sie.
Holbtook erwiderte ihren Blick, doch
ohne in ihr Läckeln einzustimmen.
Im Gegentheil, sein Gesicht trug ei
nen ernsten Ausdruck, als er ihr ent
gegnete: „Ich hoffe, dem Ziel meiner
(Febnfudht nicht rnebt fern zu sein.
Augenblicklich aber ist es mit nicht
gestattet, mein Schicksal nach meinen
Wünscken zu formen. Auch danke
ich jetzt dem Himmel, daß dieses hei
fee Verlangen nach einem eigenen Heim
erst jetzt in mir erwacht ist und nicht
schon vor Jahren." Dann setzte et,
ohne ihr Zeit zu einer Antwort auf
diese Worte zu aönnen, alsbald hinzu:
„Das Wetter ist heute so schön hat
ten Sie nicht Lust, einen Spaziergang
mit mir zu machen. Fräulein Tem
vleton? Ich fürchte, Sie bewegen
sich nicht genug in freier Luft. Wenn
wir jetzt gleich aufbrechen, sind wir
zur Tbeestunde wieder da."
Annie nahm diesen Vorschlag freu»
big an.
Fröhlich plaudernd wanderte sie ne
den ihm dahin. Seit dem Tod ihres
Bruders hatte sie sich noch nicht wieder
so heiter gefühlt als an dem heuttaen
Nackmittag. Der Himmel war klar
und hell und auch in Holbrooks See
le war ein lebhaftes Glücksgefllhl er
wacht.
„Der Herbst ist die schönste Jahres
zeit," dachte er „ja. wahrlich, das
Leben ist des Lebens werth!"
25. Kapitel.
Holbrook macht einen unerwarteten
Fund.
Ein Monat war seit dem Mord
verflossen. Nach wie vor lastete ein
tiefes Geheimniß auf der That. Die
Polizeibehörde forschte vergebens nach
dem Verbrecher doch hielt sie nichts-
destoweniger an dem Glauben fest,
daß Templeton das Opfer einer Ver
wechslung geworden fei.
Am Tage nach dem mit Anttie ge
machten Spaziergang sprach Holbrook
im Stadthause vor und traf daselbst
jenen Polizeidirektor, welcher ihm das
Zeugpröbchen von dem Anzug des
Mörders abgescknitten hatte. Er
fragte diesen Herrn nach den Grün
den. welche ihn veranlaßten, so hart
näckig an der Annahme festzuhalten,
daß der Todesstoß, der Templetons
Leben beendet hatte, einem anderen
zugedacht war, und erhielt darauf
eine Auskunft, die ihm einleuchtend
und scharfsinnig erschien.
Für ein Weilchen verspürte Hol
brook große Lust, nun auch seinerseits
dem Direktor seine Eröffnungen zu
machen und diesem mitzutheilen, daß
er und Tom nahe daran gewesen sei
en, Herrn Fountain als den Mörder
au verklagen. Das Bedenken je
doch, daß diese Thatsache nicht nur
fein Geheimniß, sondern auch das d«S
Reporters war. bewog ihn zum
Schweigen. Auch hätte et ja Flo
ra's Namen erwähnen müssen und
davor scheute er zurück.
Er verließ das Stadthaus daher,
ohne den Beamten über jenen Miß
griff aufgeklärt zu haben, von Dem
I
er und Tom noch rechtzeitig Kunde
erhalten hatten.
Auf dem W«g« nach feinem Bureau
gab er sich voll und ganz den freu
digen Eindrücken bin. welche fett oen
mit Annie verlebten gestrigen Abend
ftunbt in feiner Seele mächtig wa
ren. Er ward nicht müde, sich in
feinem Geist die Lieblichkeit ihre?
Seins und Wesens und den Zauber,
den jedes ihrer Worte auf ihn aus
übte zu vergeaenwärtigen.
In glücklichster Stimmung erreich«'
te er fein Bureau. Als er die Thür
zum Vorzimmer mit einem kräftiaen
^uck öffnete, entstand ein lautes Ge
polter. Einer feiner Schreiber batte
eine Leiter so ungeschickt in der Nähe
der Tbür ausgestellt, daß sie durch daS
Oeffnen derselben stark in'? Schwan
ken qerietfr. Ter junae Tölpel selbst
stand bereits aus der äußersten Spros
se. als der Anvrall aesckah: er war
auf diesen hohen Posten a«klettert.
um au «in«m Bord zu gelanaen. das
unter der Zimmerdeck« an allen vier
Menden entlang lief und in grünen,
mit heißer Namcnsfrfinft versehenen
.ftolz kästen alt«, selten gebrauchte
Sckiriftftücke enthielt.
Als Holbrook nun so hastig an die
Leiter stieß, war der Schreiber nahe
davon, wie ein« reis« Birne herabzu
fallen. Er hielt sich aber noch recht
zeitig fest, und statt feiner stürzte
einer jener Hol,kästen auf den Boden
und fprana auf.
Die übriaen Insassen des Zimmers
eilten herbei, um den Kasten aufzu
beben: doch als sie dies thaten fiel
er ganz und aar auseinander und fein
pgvierener Inhalt flatterte nach allen
Seiten hin.
„Mas mögen das für Dokumente
fein?" fraate .fSolfrroot. einen bedau
ernden Blick auf die von ihm verur
sachte Unordnuna werfend.
..Sie beziehen sich auf den Prozeß
von Samvson und Compagnie." ant
wortete der Buckhalter. ..Sie haben
feinen Werth mehr: die Anaelegenbeit
kam vor ?«hn Iahten zum Austraq."
Eine kleine Blechbüchse lag mitten
unten den Akten.
..Und was ist das?" fragte Hol
brook. mit der Hand auf die Metall
fa*fel deutend.
Der Buchhalter bückte sich und hob
sie auf. „Sie ist verschlossen!" sagte
er.
„ftönat kein Schlüssel baran?"
..Nein."
Alle suckten unter den Papieren
nach den Schlüssel. Er war nicht
zu finden.
Holbrook nahm die Wüchse in bie
Hand und betrachtete si« von all«n
Seiten. Sie war mit d«n Initialen
..C. P." versehen das machte ihn
stutzig.
..Merkwürdia!" faate er. „Zch
möchte doch wissen, was sie enthält"
Er nahm sie mit in fein Privat»
zirnmer und ließ sich einen Hammer
und ein Stemmeifen geben. Mit Hil
fe dieser Werkzeuge erbrach er de»
Deckel.
Das erste, was ihm ins Auge fiel,
war ein längst verfallener Weckfel,
der auf Charles Pierson's Namtu
ae,logen und A. P. Duncan unterzeich
net war.
„Meine Ahnung hat mich nicht be
trnnen!" murmelte er. „Der Kasten
aehötte Pierson: vermutblick ist er
bei der Auslieferung des Pierson'
schen Eigenthums bur* ein Versehen
nicht zurückbegeben, fonbetn in jenen
Kasten gelegt worden."
Er nahm die übrigen Papiere eben
falls heraus. Sie waren geschäft
lieber Art: die meisten bezogen sich
auf die Firma Diinran & Com
pagnie. Holbrook fand sie hockst un
interessant: er schob ne alle auf einen
Hausen zusammen, dann kehrte er die
Bückse um.
Ein groß«? blaues Kouvert fiel
heraus. Es war mit einem rothen
Bindfaden umwunden und besaß zwei
rotbe Siegel.
Diese Siegel waren derartig auf
das Kouvert ausgedrückt, daß diese?
nicht geöffnet werden konnte, ohne jene
zu erbrecken.
Die Ausschritt dieser Briefhülle
lautete: „Nur von dem Eigenthümer
Charles Pierson oder- von dessen No
tar Herrn Harfner zu öffnen."
Holbrook schüttelte ^en Kops. „Pier
son und Harkner sind beide todt!
Was ist da zu machen?"
Er wog seinen Fund nachdenklich
mit der Hand und musterte ihn sin
nend „Habe ich ein Recht, mir den
Inhalt zu betrachten?" fragte er sich.
„Bin ich nicht der Nachfolger deS
Notars? Ist mir nicht die Arbeit zu
Tb«il geworden, feinen gefammteniu«
ridischen Nachlaß zu ordnen? Ja,
so ist es! Ich wage ts daraus hin!"
Er erbrach die Siegel und riß bq£
Kouvert auf, das inwendig aus wei*
ß«m Zeug bestand und sehr dick war.
Ein beschriebener Stempelbogen fiel
ihm entgegen. Et betrachtete die
Handschrift- es war die nämliche, wel
che die Worte auf das Konvert ge*
setzt hatte. Unterzeichnet war Sa5
Kouvert mit dem Namen ChatlO
Pierson.
(ftdrtfrtmiä-'fofat.)
e u n W a u a
Du denn Deine Frau nicht einmal
von dem berühmten Porträtisten mq*
Un?"
«Ganz einfach, mein Lieder: jb
malt sich selbst ziemlich ant*
BrzLblung von Varels Rstttz. fHirto*
^Wstue Uebersetzung von 8. $offom.l