Set Mnliiitf.
(12. Fortsetzung.)
^Zuerst wollen wir den Posten vor
der Hausthüre Sand in die Augen
streuen," erwiderte Tom. „Sind zwei
von Ihren Schreibern mit einer klei
nen Dosis Schauspielertalent be
gabt?"
„Das weiß ich nicht," antwortete
Holbrook. „Ich habe, meine Leute
noch nie darauf hin geprüft."
„Nun, so greifen Sie auf gut Glück
zwei von ihnen heraus. Dieselben sol
len auf dem gewöhnlichen Weg das
Haus verlassen, hart an dem Auf
passer vorüber gehen, und einer von
ihnen hat so laut, daß jener Mensch
es hört, die Worte zu sagen: „Ich
bin sehr entrüstet ich glaubte, ich be
käme heute Abend zeitig frei, um ins
Theater zu gehen. Ich freute mich
schon darauf nun aber wollen Herr
Tom Bryan und Herr Holbrook die
ganze Nacht durch an einem langen
Bericht arbeiten. Ich soll Ihnen zu
diesem Zweck Papier holen wir haben
nicht mehr genug in unserem Bureau.
Ich werde nun auch wohl bis an den
hellen Morgen schreiben müssen."
Holbrook lachte trotz seines schwe
ren Herzens. „Ja, das geht," sagte
er. „Ich beauftrage Smith und
Brown sofort zum Spielen dieser
kleinen Scene. Sie werden sie sicher
lich geschickt genug ausführen, um den
Spitzbuben zu dem Glauben zu ver
anlassen, daß wir an kein Ausgehen
denken."
Gesagt, gethan die betreffenden
Schreiber verließen das Bureau, und
Tom setzte die Darlegung seines Pia«
nes fort. „Es kommt nun also vor
nehmlich darauf an, daß wir heim
lich aus diesem Gebäude herauskam
men," sagte er. „Der Hauptaus
gang ist uns freilich versperrt. Der
enorme Kasten wird aber doch jeden
falls Nebenthüren haben."
„Ja," entgegnete Holbrook, „eine
von ihnen mündet in eine kleine
Quergasse. Ich vermuthe, daß sie
das Ende einer Hintertreppe bildet.
Ich will unseren Hausmann rufen
lassen. Er soll uns den Weg zei
gen. Aber wenn wir nun draußen
sind, ohne daß jener Nachschleichet es
gemerkt hat, was thun wir bann?"
„Zuerst suchen wir meinen Schat
ten auf. Ich weiß, wo er um diese
Tageszeit zu finden ist. Er ist schlau,
er soll erforschen, in welchem Hause
der Mottstraße Fräulein Templeton
verborgen gehalten wird. Wir aber
gehen indessen zu meinem Freund
Hanford. Dieser ist der Direktor
einer Privat Detektiv Gesellschaft
und ein findiger Mensch. Er soll
mir einige seiner gut eingeschulten
Untergebenen zur Verfügung stellen.
Im Verein mit ihnen wagen wir
dann den Befreiungsversuch. Ge
fällt Ihnen der Plan?"
„Vorzüglich! Ich bin jetzt auch viel
ruhiger geworden. Sie sollen nicht
mehr über meine allzu große Heiß
blütigkeit zu klagen haben."
Der Hausmann kam und erklärte
sich bereit, die beiden Herren auf ei
nem Nebenweg aus dem Haus« zu
führen. Er zog einen großen Bund
Schlüssel hervor, das er an einem
ledernen Taillengurt hängen hatte,
und ging den Freunden voran. Hol
brook und Tom schritten ihm nach.
Unterwegs meinte der letztere, er
halt« es für gerathen, das Rettungs
werk erst im Dunkel des Abends, also
etwa um neun Uhr, auszuführen.
Holbrook brauste abermals auf. So
lange halte er die Folterqualen sei
ner Sorg« um Annie nicht aus, be
hauptete er. Auch fügte er hinzu:
„Bedenken Sie doch nur, daß wir
durch jede Minute der Verzögerung
unseres Eintreffens die. Todesangst
des armen Kindes vermehren!"
„Ja!" sagte Tom trocken. „Aber
dennoch halte ich «s für besser, sie spat
zu befreien als gar nicht. Wir wol
len Hanford um seine Meinung fra
gen. Ist er damit einverstanden, daß
wir unverzüglich zu Fräulein Tem
pletons Erlösung aufbrechen, so füge
ich mich seinem und Ihrem Willen.
Er ist in derartigen Sachen weit er
sahrener als ich. Versprechen Sie
mir wenigstens, seinem Rathe zu ge
horchen!"
Holbrook gab sein Wort.
Der Hausmann führte die beiden
Herren durch eine Reihe von
Komptoirs zu einem langen Gang.
Dieser mündete nach einer schmalen
Trepp«. Sie stiegen von einem
Stockwerk zum andern hinab und
traten endlich durch eine niedrige
Hausthür in die Quergasse hinaus.
Nach wenigen Schritten erreichten
sie das Gewühl der Nassaustraße. Sie
fanden den Schatten und ertheilten
ihm den Auftrag, das rechte Haus
in der Mottstraße zu ergründen.
Tom und Holbrook wandten sich
westwärts und eilten quer durch den
City Hall-Park. Sie gingen zum
Broadway und betraten daselbst ein
Gebäude, welches dem Postamt gera
de gegenüber liegt.
Im zweiten Stockwerk fanden sie
in einem der ersten Zimmer der rech
ten Seite einen großen, kräftig ge
bauten Mann, der ungefähr fünfund
vierzig Jahre zurückgelegt haben
mochte. Dieser empfing den Repor
ter mit lebhafter Freundlichkeit. Er
hieß Hanford und war jener Detek
tiv Direktor, auf dessen Hilfe Tom
rechnete.
„Ich möchte Sie unter vier Augen
sprechen," sagte Tom zum Direktor
„So treten Sie gefälligst in dieS
Zimmer."
Tom folgte seinem Freund in ein
Stübchen, in dem einige wenige
Stühle und ein Tisch standen.
„Ich bedarf einer Eskorte von fünf
bewaffneten Leuten." erklärte er.
„Ich werde Ihnen Ihren Wunsch
erfüllen Sie wissen, daß ich Ihnen
jederzeit zu Diensten bin. Wozu brau
chen Sie die Männer?"
Tom theilte ihm mit, daß eine jun
ge Dame geraubt sei, die er zu befrei
èn wünsche. „Das Liebste wäre
uns," fügte er binzu, „Sie entschlöf
sen sich, uns selbst zu begleiten. Hat
ten Sie nicht Lust dazu?"
Der Direktor be'ahte diese Frage.
„Haben Sie sich bereits einen An
griffsplan gemacht?" fragte er.
„Noch keinen ganz festen. Ich ha
be meinen Schatten voransgesendet.
Sie wissen, er ist in Ihrer Schule
erzogen und hat sich stets als ein gu
ter Detektiv bewährt. Er soll er
forschen, in welchem Hause die bekla
genswerthe junge Dame verborgen
gehalten wird. Ich habe ihm be
fohlen, hierher zu kommen, sobald es
ihm gelungen ist. diese Nachforschung
zu machen. Halten Sie es für ge
rathen, vor dem Anbruch der Nacht
unsere Expedition zu beginnen?"
Der Direktor erklärte, neun Uhr
sei das Frühest« eher zu gehen sei
unvernünftig. Holbrook war sehr
niedergeschlagen, als ihm dieser Ent
schluß mitgetheilt wurde, doch fügte
er sich der Anordnung des Direktors
ohne Gegenrede.
„Wir wollen ein regelrechtes Pro
gramm entwerfen, sobald meinSchat
I ten eingetroffen ist," sagte Tom. „Da
er aber zur Erledigung seines Aus
träges mindestens noch eine Stunde
Zeit brauchen wird, so schlage ich vor,
lieber Holbrook, daß wir diese durch
einen Besuch bei Frau Templeton
ausfüllen. Ich halte es für unsere
Pflicht, die liebenswürdige alte Dame
durch die Nachricht zu trösten, daß
Annie Ihnen ein Lebenszeichen ge
geben hat."
Holbrook fand diesen Vorschlag
vortrefflich, und alsbald fuhren die
beiden Herren in einer. Droschke von
dannen.
Als sie das Boardinghouse erreich
ten, in dem Templetons sich eingemie
tfot hatten, stieg Holbrook aus. Tom
blieb dagegen im Wagen sitzen. Ein
Zeitungsträger ging vorüber. Diesen
rief er an und kaufte ihm tin Blatt
ab. Er hatte kaum angefangen, die
Tagesneuigkeiten zu lesen, als Hol
brook sehr blaß und sehr erregt wie
der aus dem Hause heraus kam.
„Was ist geschehen?" rief Tom.
„Etwas sehr merkwürdiges!" ant
wortete Holbrook, an den Wagen
schlag tretend. „Denken Sie sich,
die Hauswirthin erzählt mir. vor ei
ner halben Stunde sei eine Frau ge
kommen und habe Frau Templeton
die Meldung gebracht. Annie habe sich
den Fuß gebrochen. Sie liege bei ihr
im Hause und wünsche, daß ihreMut
ter sofort zu ihr komme."
„Natürlich hat Frau Templeton
sich wohl gehütet, dieser Aufforderung
Folge zu leisten," sagte Tom.
„Nein! Sie hat im Gegentheil sich
sofort angezogen und ist mit der
Frau fortgegangen. Die Hauswir
thin weiß nun gar nicht, wohin."
„Da huben wir die zweite Ent
I fiihrung!" rief Tom ärgerlich. „Wie
konnte Frau Templeton aber auch,
so ohne weiteres sich zum zweitenmal
täuschen lassen das ist mir un
begreiflich!"
„Die beiden Damen haben nie zu
vor in einer mit Ränken aller Art
erfüllten Großstadt gelebt!" erwiderte
Holbrook mit entschuldigendem Ton.
„Die Sache wird immer verwickelter.
Hoffentlich haben die Schurken sie
beide in das nämliche Haus gebracht."
„O nein, so dumm werden sie kei
nesfalls gewesen sein. Dieser zweite
Raub verräth uns, daß wir es mit ei
nem scharfsinnig ausgedachten Plan
zu thun haben. Er ist offenbar nicht
von einem einzigen Menschen, sondern
von mehreren ausgegangen. Wie
mag die Frau ausgesehen haben, wel
che Frau Templeton fortlockte?"
„Die Hauswirthin sagte mir, sie
habe ein freundliches, Zutrauen er
weckendes Aeußere gehabt und sei gut
gekleidet gewesen."
„Es ist eine dunkle Sache, aber ei
nes läßt sich doch jetzt klar erkennen:
dies Komplott hat den Zweck, alle
rechtmäßigen Erben des Piersonschen
Vermögens aus dem Weg zu räumen.
Jetzt, da Templeton todt ist und die
beiden Damen durch ihre Entführung
außer Stand gesetzt sind, ihre Erb
anspräche geltend. zu machen, ist der
Weg zu jenem Krösusschatze frei, so
denken die spitzbübischen Räuber.
Aber ich hoffe, es gelingt uns, ihnen
einen dicken Strich durch die Rech
nung zu machen."
„Ja, aber was thun wir jetzt zu
erst?"
„Wir halten treulich an unserer
Absicht fest, um neun Uhr zu Fräu
lein Annies Befreiung aufzubrechen.
Ist die Tochter gefunden, so gelingt
es uns sicherlich auch sehr bald, ihre
Mutter zu entdecken, und wenn mich
meine Erwartungen nicht täuschen, so
ertappen wir in den Räubern der
beiden Damen die Mörder ihres Bru
ders. Jetzt aber setzen Sie sich ei
ligst zu mir, damit uns die Droschke
zu unserem Freund Hauford fahren
kann."
32. Kapitel.
Die Eröffnung des Angriffes.
Als Tom und Holbrook HansordS
Wohnung erreichten, fanden sie den
Schatten bereits dort vor.
Seine Entdeckungsfahrt hatte einen
negativen Erfolg gehabt. Er vermoch
te eine Anzahl von Häusern in der
Mottstraße anzugeben, in denen An
nie Templeton unter keiner Bedin
gung eingekerkert sein konnte wo sie
war, hatte et dagegen nicht erfahren.
Dieser Umstand erregte in Tom den
Argwohn, daß jenes in Holbrooks
Besitz befindliche Zettelchen vielleicht
gar nicht von der jungen Dame ge
schrieben, sondern auch eine Fälschung
sei.
Diese Muthmaßung brachte Hol
brook außer Fassung. Er zog aus
seiner Tasche ein Billet, das sie ihm
vor einigen Tagen geschrieben hatte.
Er verglich die Schrift dieses Brief
chens mit den Zeilen aus der Zei
tung und fand zu feiner Bestürzung,
daß sie einander in keiner Weise gli
chen.
Hansord nahm ihm die beiden Do
kumente ab ilnd prüfte sie ebenfalls.
Das eine war auf einem feinen Bo
gen mit guter Tinte und einer vor
züglichen Feder in voller Gemüths
ruhe geschrieben, der Inhalt des an
dern dagegen mit einem sehr harten,
stumpfen Bleistift auf ein Papier
stückchen gekritzelt, welches nicht zum
Beschreiben dienen sollte. Die Buch
staben des letzteren trugen überdies
den Stempel hochgradiger Erregung.
War es unter diesen Umständen
nicht naturgemäß, daß die Schrift
züge der beiden Billete keine Aehn
lichkeit mit einander hatten?
Hanford wies aus diese Thatsachen
hin, und Holbrook athmete erleichtert
aus.
„Ich halte dieses Zettelchen für
echt!" erklärte der Direktor: „Es trägt
die Kennzeichen eines in wirklicher
Angst zu Papier gebrachten Hilferu
fes. Wäre es eine Täuschung, der
Verfasser würde sich weit gewählter
ausgedrückt haben. Die meisten Fäl
schungen verrathen sich durch die
Künstlichkeit ihres Wortlautes. Die
se Zeilen dagegen sind natürlich und
einfach. Uebrigens scheint es mir
auch unwahrscheinlich, daß die Spitz
buben aus den thörichten Gedanken
gerathen sein sollten, den nächsten
und besten Freund ihres Opfers durch
ein solches Billet aus ihre That auf
merksam zu machen. Hätte H«rr
Holbrook noch nichts von Fräulein
Annie'sVerschwinden gewußt, er müß
te es ja durch diese Botschaft erfahren
haben. Nein, nein meiner Meinung
nach sind Herrn Bryan's Zweifel
an der Echtheit dieses kleinen Manu
skriptes durchaus hinfällig."
Diese Versicherung beruhigte die
Gemüther aller Anwesenden.
„Nun gut," sagte der Schatten.
„Wenn Fräulein Templeton sich dem
nach jedenfalls in der Mottstraße be
findet, so vermuthe ich, daß sie in ei
nem Hause festgehalten wird, das
an der linken Seite der Bayardstra
ßenecke liegt. Es ist das einzige von
all den Gebäuden, die ich besuchte,
dessen Boden fest verschlossen war. Es
ist sehr alt und verfallen und scheint
fast ganz unbewohnt zu fein. Ich ging
die Treppe hinauf, kein Mensch be
gegnete mir, und dennoch konnte ich
nicht in den Dachraum hinein gelan
gen."
„Hm, Fräulein Templeton ist
sicherlich in einer Bodenkammer ein
gesperrt," muthmaßte Hanford.
„Das glaube ich auch," meinte der
Schatten. „Und sollte dies der Fall
sein, so ist anzunehmen, daß derRäu
ber sie über das Dach jn einen ande
ren Gewahrsam bringt, sobald wir
mit vereinter Macht die Treppe hin
ausstiirmen."
„Wir müssen daher zuerst und vor
allen Dingen das Dach besetzen!" rief
der Direktor. „Dies wird nicht
schwer sein wir theilen uns in zwei
Parteien, die eine übernimmt die
Beobachtung des Daches, die andere
die der Eroberung des Bodenrau
mes."
„Und wenn die Nachbarn des
Raubnestes es nicht dulden, daß wir
zu ihnen eindringen?" fragte Hol
brook.
„So brauchen wir Gewalt!" ant
wertete der Direktor. „Es liegt auf
der Hand, daß wir unter diesen Um
ständen uns nicht mit jenen Leuten
auf ein längeres Kapituliren einlassen
können. Eine rasche. energischeHand
lungsweise ist dringend nothwendig."
„Welch ein Glück, daß Sie so ent
schlossen und muthig sind!" rief Hol
brook voll Dank aus.
Der Trupp von Verbündeten, aus
acht Personen bestehend, theilte sich
nunmehr in zwei Theile. Tom über
nahm mit drei Unterdetektivs die Be
setzung des Daches. Hanford und
Holbrook beschlossen mit dem Schat
ten und einem Detektiv die Erstür
mung von Annie's Kerker zu über
nehmen. Sie rüsteten sich mit Waf
fen aus und steckten Werkzeuge der
verschiedensten Art zu sich, die ihnen
beim Aufbrechen von Thüren nützlich
fein konnten. Dann wanderte die
kleine Kolonne nicht gegemeinsam,
denn sie wollte jedes Auffehen ver
meiden zu einem nahe gelegenen
Gasthof, um sich zu der wahrscheinlich
mühevollen Arbeit durch Speise und
Trank zu stärken. Alle Mitglieder
hatten den besten Appetit von der
Welt nur Holbrook war viel zu er
regt, um auch nur einen Bissen zu
essen. Er sah fortwährend nach der
Uhr und war äußerst ungeduldig.
Endlich war die Zeit des Auf
bruchs herangekommen. Die Bun
desgenossen erhoben sich von ihrem
Mahl sie drückten einander wartn die
Hand und sprachen sich gegenseitig
die Hoffnung auf ein ungetrübtes Ge
lingen ihres Werkes aus. Dann
trennten sie sich. Tom und Holbrook
fuhren in einem Miethwagen bis zum
Eingang der Bayardstraße. Hier
stiegen sie aus und befahlen dem Kut
scher, auf ihre Rückkehr zu warten.
Holbrook schärfte ihm wiederholt ein,
ja den Platz nicht zu verlassen,
Hanford und seine Leute begaben sich
indessen zu Fuß auf den Weg nach
der Mottstraße.
Natürlich waren Tom und Hol
brook die ersten auf dem Plan. Sie
hatten sich in der Detektivwohnung
alte Hüte und Mäntel geben lassen
und sich durch diese unkenntlich ge
macht.
„Wir wollen das verdächtig« Haus
in Augenschein nehmen!" rieth Tom.
Holbrook war einverstanden, und
so bogen sie mit einander um die
Bayardstraßenecke und traten in die
Mottstraße. Plötzlich fühlte sich Hol
brook am Mantel gezogen. Er blick
te zur Seite und bemerkte einen klei
nen, zerlumpten Jungen. Er wähn
te. das Kind wolle ihn anbetteln, und
stand eben im Begriff, es barsch ab
zuweisen, als Tom ihm zuflüsterte:
„Behandeln Sie den Kleinen gut es
ist Annies Briefträger."
Holbrook nahm natürlich sofort ei
nen freundlichen Ton an. „Was willst
Du, Kind?" fragte er wohlwollend.
„Ach, ich wollte Sie nur fragen, ob
Sie jetzt den alten greulichen Kerl
braun und blau hauen wollen!"
forschte Annies Heinzelmännchen,
durch diese Anrede errnuthigt. „Er
ist jetzt nicht ^u Hause, aber et
kommt gewiß nachher wieder."
Tom muthmaßte sehr richtig, daß
dies Kind ihnen mancherlei Hilfe lei
sten könne. Er faßte es daher an
der Hand und führte es in die näch
ste Quergasse, wo er ungestörter mit
ihm zu sprechen vermochte. Holbrook
folgte ihnen.
„Was meinst Du mit dem Aus
druck braun und blau hauen?" fragte
Tom den kleinen Mann.
„Die Frau da oben sagte, et wür
de feine Strafe schon kriegen und
ich würde mich freuen, wenn ihm fein
Dickkopf ganz zerschlagen würde!"
„Welche Frau sagte das?" erkun
digte sich Holbrook eifrig.
„Nun die, die mich zu Ihnen schick
te mit dem Zettel. Er ist ja so eklig
gewesen, sie einzusperren."
„Jn welchem Hause ist sie?"
„Kommen Sie mit, ich will es Jh
nen zeigen." Der Kleine schritt ihnen
voran und deutete auf das Gebäude,
welches der Schatten ihnen als allein
verdächtig bezeichnet hatte.
„Die ist ganz oben in der Dach
kammer," fügte das Kind hinzu. „Der
greuliche Kerl ist ausgegangen er hat
den Schlüssel in die Tasche gesteckt, so
daß kein Mensch zu ihr herein kann.
Das ist abscheulich. Aber nun kriegt
er eine Prügelsuppe, und das ist
gut!"
Tom lachte. „Du freust Dich schon
auf dies Schauspiel," sagte er, „nicht
wahr?"
Das Kind nickte.
„Warum magst Du ihn nicht lei
den?"
„Et gibt mit Maulschellen, wenn
«r mich sieht!"
„Ist er mit Dir verwandt?"
„O nein, aber er ist doch immer ek
lig mit mir."
„So? Nun aber erzähle mir, wo
hast Du denn die Dame gesehen? Du
behauptest doch, der alte greulicheSerl
habe sie eingeschlossen und es könne
keine Seele zu ihr gelangen."
„Ich bin auf's Dach geklettert und
habe zu ihr in's Fenster geguckt."
„Ei." sagte Tom, „das ist ein
prachtvoller Einsall. Das könnten
wir Dir nachmachen. Kannst Du
uns nicht den Weg ze'gen?"
„Ja, das kann ich! Wir wohnen
nämlich da oben im Nebenhaus« auf
dem Boden. Meine Mutter ist für
ein Viertelstündchen weggegangen,
und wo mein Vater ist, der sitzt im
mer in d«r Schenke."
„Das trifft sich ja gut!" rief Tom
hocherfreut. „Dann macht uns die
Besetzung des Daches nicht die min
deste Schwierigkeit. Ich will eilends
Hanford entgegengehen und ihm mit
theilen, was uns dies Kind erzählt
hat."
„Sagen Sie ihm, daß ich lieber
gleich mit auf das Dach steigen wolle.
Et solle inzwischen mit seinen Leu
ten die Thür des verdächtigen Hauses
besetzt halten!" rief ihm Holbrook
nach.
Hanford wär mit dieser Abände
rung des Programms einverstanden.
Er stellte sich mit zwei feiner Un
tergebenen vor dem Raubnest auf,
während die übrigen dem kleinen
Jungen folgten.
Diese letzteren erreichten ungefähr
det das Dach von der Wohnung des
Heinzelmännchens, fanden dort aber
den Uebergang zu dem des verdächti
gen Gebäudes in Folge seiner steil
ansteigenden altmodischer. Giebelform
abschüssig und gefahrvoll.
Das Kind lief ihnen wie ein Kätz
chen voran offenbar war es seit lan»
gern schon an derartige Kletterlunft#
stücke gewohnt und nicht im minde
sten schwindelig.
„Da ist das Fenster!" rief es froh
lockend und deutete auf eine kleine
Oeffnung in der Schieferbekleidung
des Daches.
Der Schatten und derDetektiv blie
ben auf halbem Weg sitzen, da Tom
es für überflüssig hielt, daß sie sich
weiter wagten et selbst aber und
Holbrook schoben sich in kriechender
Stellung über die Schieferplatten zu
jenem Dachfenster hin und schauten
ins Haus hinein.
Es war dunkel da drinnen, sie
konnten nicht das mindeste sehen. Sie
legten ihr Ohr an die zerbrochene
Glasscheibe und vernahmen keinen
Laut.
Dann tief Holbrook mit gedämpf
ter Stimme: „Fräulein Annie, Fräu
lein Annie!"
Ein leiser Freudenschrei beantwor
tete seinen Ruf. Die Gefangene hat
te seine Stimme erkannt.
„Wir kommen, um Sie befreien!"
tief Tom hinunter. „Sind Sie al
lein?"
„Ja, ganz allein."
„Zünden Sie ein Licht
Ott."
„Ich habe keins."
„Ich will eins holen!" sagte das
Heinzelmännchen und huschte fort.
Nach wenigen Minuten kehrte es mit
einem Lichtstümpchen und einer
Schachtel gewöhnlicher Schwefelhöl
zet zurück. Beides ward Annie zu
geworfen, und einige Sekunden spä
ter wurde es hell in ihrer Kammer.
„So, nun wollen wir das Fenster
aufbrechen die Werkzeuge her!"
kommandirte Tom.
Das Kind jubelte laut auf. Es
klatschte die Hände und jauchzte vor
Vergnügen.
Still!" mahnte Tom „Du darfst
keinen Lärm machen, Du kleiner,
schadenfroher Geselle!"
„Strick, krack!" dröhnte der Fen
fterrahmen unter der Einwirkung der
eingeschobenen Stemmeisen. Nach
kurzer Arbeit ließ er sich sammt dem
gebrochenen Glase herausheben, und
dann war der Weg frei.
Holbrook schickte sich an, in die
Dachkammet hineinzuspringen.
„Warten Sie noch einen Augen
blick!" flehte Annie besorgt. „Die
Entfernung ist zu groß."
Sie eilte zur Bettstelle und schob
diese unter die Fensteröffnung.
Holbrook sprang hinunter und
langte dank Annies verständiger Vor
stchtsmaßregel ungefährdet in der
Kammer an.
Er schloß das vor Erregung hef
tig zitternde Mädchen in feine Arme
und bedeckte ihr Besicht mit leiden
schaftlichen Küssen. „Mein Herz
fclatt," flüsterte er tief bewegt, „hab'
ich Dich endlich wieder! Welch ein
Glück!"
Inzwischen hatte Tom dem Schat
ten und dem Detektiv zugewinkt, ih
nen zu folgen, und dann sprangen sie
alle drei der Reihe nach in dieKam
iner hinein, nur der kleineJunge blieb
auf Toms Gebot oben, obwohl auch
er gern den luftigen Sprung nach
geahmt hätte.
Sobald Tom festen Boden unter
den Füßen fühlte, ergriff er Holbtook
am Arm. „Welch ein Unsinn!" rief
er, „daß Sie sich jetzt herzen und
küssen! Es ist Ihre Pflicht, keine
Thorheiten zu begehen, sondern eilig
Fräulein Annie nach Hause zu brin
gen."
„Aber wie?" fragte Holbtook, dem
zu Muthe war, als erwache er aus
einem tiefen Traum.
Di« Thüren sind von außen ver
riegelt, wir können nicht hinaus!"
erklärte Annie.
„Wir wollen Sie zum Fenster hin
ausheben," sagte Tom. „Schnell,
schnell!"
„Das geht nicht!" behauptete der
Schatten.
„Es geht docb! Ich weiß, wie es
sich machen läßt!" versicherte Anntc.
Das Bett ward auf ihre Anweisung
eilends zur Seite geschoben, der Tisch
hereingetragen und ein Stuhl darauf
gestellt.
„So, Holbrook, nun klettern Sie
hinaus!" befahl Tom.
Holbrook that es. Mit Blitzes
fchnelligkeit erreichte er das Dach.
Jetzt kletterte Annie auf den Stuhl.
Tom stellte sich neben sie auf den
Tisch, umfaßte ihre Taille und hob
sie so hoch empor, daß Holbrook sie
von oben ergreifen konnte. So ward
sie durch die Fensteröffnung gezogen.
Jetzt stand sie neben ihrem Freund
auf dein Dach und wurde von dem
Heinzelmännchen mit stürmischem
Frohlocken begrüßt. „Nun bringen
Sie Fräulein Annie in Sicherheit!"
rief Tom ihnen zu. „Mein Schat
ten soll bis zum Wagen mit Ihnen
gehen, damit Sie einen hinreichen
den Schutz haben. Dann soll er Han
ford mit feinen Leuten zu mir brin
gen. Ich habe einen guten Gedan
ken!"
Toms Befehl ward unverzüglich
ausgeführt. Holbrook half der Ge
liebten in ritterlicher Weise über da5
Duch zu gelangen. Ungefährdet er
reichten sie den Bodenraum, in wel
chem die Familie des Heinzelmänn
chens wohnte. Sie eilten die Trep
pe hinab und wanderten fliegend.n
Schrittes der Bayardstraße zu. Dort
fanden sie den ihrer harrenden Wa
gen. 'i'j
33. Kapitel.
Aufstellung einer Kalle.
Während der Schatten das Lie»
7.
kesbaat fortgelettete und Hanford
herbeiholte, besichtigte Tom das In
nere der Dachkammern. Er fühlte
sich jetzt als Befehlshaber einet be
waffneten Macht in seinem rechten
Element. „Der erste Theil der Ex
pedition ist gelungen." sagte er sich.
„Jetzt kommt es darauf an, den oder
die Missethäter in eine Falle zu lo
den."
Et nahm das Licht in die Hand
und leuchtete in alle Winkel der bei
den Gemächer hinein. Dann prüfte
er die Stärke der Thüren und zog
die Riege! zurück, welche Annie aus
Furcht vor lästigen Besuchern vorge
schoben hatte.
Nach einem Weilchen hörte et vom
Dach her ein Schlürfen und Schar
ren, und gleich darauf sprangen der
Schatten. Hanford und dessen Umge
bung zu ihm herein.
„Herr Holbtook und das Fräulein
lassen herzlich grüßen. Sie haben
ungefährdet und ohne daß sie Je
mand sah, den Wagen erreicht und
sind fortgefahren!" meldete der ge
treue Diener feinem Herrn. „Doch
was soll jetzt geschehen? Ist unsere
Arbeit fertig?"
„Q nein, sie fängt erst recht an,
denn nun wollen wir uns daran be
geben. das Raubnest auszuheben und
die Bösewichte zu verhaften."
Diese Erklärung ward mit großer
Freudigkeit ausgenommen.
„Haben Sie Handschellen bei sich?"
fragte Tom, sich zu Hanford wen
dend.
Dieser sagte: „Ja."
„Und auch Blendlaternen und Re
volver?"
„Es ist alles bereit."
„Vortrefflich!" Tom befahl hier
auf den vier Unterdetektivs, sich so
dicht an die Innenwand der beiden
Außenthüren zu stellen, daß sie je
den Eintretenden mübelos ergreifen
und ihm einen Revolver vorhalten
konnten. Dann befahl er dem Sckat
ten, sich ins Haus zu schleichen und
ihm ein Zeichen zu geben, sobald Je
mand das Gebäude betrete.
„Du brauchst nur ganz leise drei
mal an die Thür zu pochen, dam»
wissen wir Bescheid!" sagte er.
„Das geht nicht!" entgegnete der
I Schatten. „Ich kann im Haufe nur
bis zur Bodentreppe vordringen die
se aber ist verschlossen."
„Ganz recht ich vergaß das!" sag
te Tom.
„Verstehen Sie eine Thür mit ei
nem Dietrich zu öffnen? Hier sind
welche!" sagte Hansord.
Der Schatten nickte und nahm den
Schlüsselbund in Empfang. Dann
verließ er feine Vorgesetzten, indem er
auf das Dach kletterte.
Die Unterdetektivs stellten das
Licht aus. Es herrschte Dunkelheit
im Raum, doch war dieselbe nicht
hochgradig genug, um zu verhindern*
I daß die Insassen sich an ihren Um»
I rissen erkennen konnten. Ein gerin
ges Maß von Helligkeit drang durch
die beiden Dachfenster herein.
Die Männer rührten sich nicht. Sie
hielten den Athem an und lauschten.
Jetzt ließ sich die leise Stimme des
Schattens hinter einer der Thüren
vernehmen. „Mit Hilfe der Dietri
che bin ich bis hierher gedrungen."
„Gut! Verstecke Dich dort und mel
de uns, sobald Jemand kommt!"
antwortete Tom.
Diesem Gespräch folgte abermals
ein tiefes Schweigen, doch dauerte
auch diese zweite Ruhepause nur kur
ze Zeit. Das auf dem Dach hocken
de Heinzelmännchen bewies, daß es
die ganze Zeit über auf der Lauer
gelegen und in die Mottstraße hinab
gespäht hatte. Es steckte den Kopf
zur Fensteröffnung herein und rief
triumphirend: „Hurrah, hurrah! Der
greuliche Kerl kommt nach Hause.
Jetzt kennen Sie ihn windelweich
dreschen!"
Tom lachte, doch rief et dem Wicht
zu: „Verhalte Dich mäuschenstill, Du
I kleiner Schurke, wenn Du Lärm
machst, verräthst Du uns!"
Die Hausthür wird ausgerissen
und zugeschlagen dröhnend fiel sie
ins Schloß. Schwere Schritte pol
terten die Treppe herauf. Sie nä
herten sich dem Bodenraum.
Der Schatten pochte dreimal.
Die polternden Schritte näherten
sich der Dachwohnung. Eine tasten
de Hand suchte nach dem Schlüssel
loch. Ein Schlüssel ward hineinge
steckt und eine Stimme brummte:
„Ich möchte doch daraus schwören,
daß ich die Bodentreppe abgeschlos
sen habe, und nun fand ich sie offen.
Wie mag das zugegangen fein?"
Die Thür öffnete sich und ein vier
schrötiger Mensch trat über die
Schnelle. Er merkte nichts von der
ihm zugedachten Ueberrafchung.
„Heda, mein Täuochen. noch immer
im Finstern?" fragte er höhnisch.
Kaum hatte er diese Worte aus
gesprochen. als er sich an der Schul
ter gepackt fühlte. Im Lichte znx fr
plötzlich aus dem Dunkel auftauchen
den Blendlaternen erblickte et dicht
vor feinen Augen die Mündungen
mehrerer Revolver.
„Nieder auf die Knie, Du Halun
ke!" donnerte ihn Hanford an.
lftortfepuna tolg:.)
E i n i i e S i e
haben sich in der betreffenden Kneipe
einen fremden Hut angeeignet und
Ihren alten HUz âafiü las*
sen!"
Erzählung tor Barrl«? W»rt|. (Auto*
ästete Uederietzung von A. Pastow.
Der StaatS'Anzeigrr. MSmarck, N. D., den 8. Slngnst.