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»Nebith!« Charakterbild aus dem jüdischen Volksleben der Gegenwart Von Rat-bitter Ententheil in Holitz. lll. Milde, kühle Abendlnft wehte nnd säu selte in den Zweigen der Bäume im ein fachen Hausgarten der Rabbineiwohnung in S. .., es war nicht viel von Blu menzier in dem schlichten, mehr zum Ge müsebau verwendeten Garten zu sehen; dafür gabs aber daselbst ein Paar uralte prächtige Bäume, die wohlthuenden Schatten spendeten und auch genügende Obstvorräthe in die Vorrathskammer des Hauses lieferten; unter einem dieser Bäumen war eine schlichte Bank zum Ausruhin In schattiger Abendlühle ange bracht; hier pflegte der selten ins Freie gehende alte R abbi sein Lieblingspfeifchen zu rauchen, und hier wars auch, wo des sen Tochter (welcher Rabbiner hat nicht von der Sorte?), die liebliche seelengute Hulda, in Mußestunden ihren Mäd chengedaiiken Audienz zu geben pflegte oder dieselben m die engen Maschen eines Strickstrnmpfes verftrickte, und dann und wann auch eine Freundin aus der Fihille auf ein Plauderstündchen zu sich lud. Heute wars die Gastwirthstochter Frl. "Martha Gottlieb, allgemein aber nach der in alten Gemeinden üblichen Unsitte des Spitznamengebens ,,Frl. Nebich« genannt, weil ihr Vater, der uns bereits bekannte koschere Speisewirth Rebb Do wid Gottlieb das Wörtchen »nebich« Jahraus Jahrein i1n Munde führte, die auf der einfachen Gartenbank an der Seite der Rabbinerstochter Hulda saß. Martha war zwar ein wenig hochfah rend in ihrem Wesen Fremden gegenüber und konnte es in ihrem Vater, der sie liebevoll mit allem Comfoit in ihrer Hänslichkeit umgab, doch nimmermehr verzeihen, daß er S p e i s e w i r th blieb und sein erspartes Geld nicht lieber nach dem Rathe ihres Bruders Fritz, der sein mütterliches Erbe in Wucherge schäfte n Unter dem stolzen Namen ,,Bank- und Wechselgeschäft« ebenfalls als sogenannter Geldgeber verwendete.— »Sieh nur, liebe Hulch ists nicht ein unverantrvortlicher Eigensinn von meinem Vater,« sagte sie jetzt zu ihrer Freundin Hulda, »daß er nicht, seine jetzt einzigez Tochter, obwohl ichs gottlob nicht nöthig« hatte, zur Gouvernante für eine dienende Lebensstellung heranbilden ließ, nnd jetzt nach dem Tode meiner guten TUtntter und ältesten Schwester mich dazu anhält, mich s den Lannen verdrießlicher Gäste— denn E jeder Hungrige ist mehr oder weniger verdrießlich — ausmsetzen? Wie doch Bertha Vogelfang, Alma Frühwald und Jetti Rothfeld so schön modern gekleidets und stolz um sich blickend einhergehn, weil l ihre Väter im Gegensatz zu dem meinigen s es verstehen, mit ihrem kleinen Capitalek durch vermittelung des Dr. Presser große « Wucher-geschäf« zu machen, während ich Aermste es hinnehmen muß, daß dem einen Gaste der Braten zu wenig 1nürbe, dem Anderen die Sance zu wenig gepfef sert ist; und doch könnten ja auch wir es so bequem haben als viele Andere, denn bei dem Geldgeber von heute weiß der Schuldner im Vorhinein, daß die Zinsert berechnung »g u t g e p fle f f e r t ,« und wird der Geldnehmer, wenn er in Noth ist, von selbst m ü r b e. Aber was gabs denn Samstag, liebe Huldal im Vortrage, den Dein ehrwürdiger Papa gehalten, daß mein Vater ganz entzückt ein über das andere Mal sein ,,nebich, nebich !« ausrief, und mein Bruder Fritz, der B a n k i e r dagegen, der doch den Jnhalt des Vortrages nur vom Hören sagen kannte, kurzweg behauptete, Dein Papa habe veraltete, unzeitgemäßeAn sichten, und verstehe Alles, nur seine Zeit nicht? »O! mein guter weiser Vater,« sagte Hulda hoch erglüht vor Eifer, ,,er ver steht sie wohl, unsere Zeit und ihre Ge brechen, er hat unserer jüdischen Gesell schaft zunächst den Puls gefühlt, er hat ihren Herzschlag belaufcht und weiß, was ihr fehlt; gegen den in neuester Zeit sich leider in jiidischen Kreisen eben so wie in nicht jüdischen fürchterlich um sich greifen den Wucherkrebsschaden hat mein Vater gesprochen, und dein braver, rechtlich den kender Vater hat wahrlich gar nicht Un recht, wenn er in Gedanken, anknüpfend an die Worte seines Rabbiners, sein »ne bich, nebich!« ausrief, denn glaube mir, Marthal ebenso bedauernswerth wie »ne bich« Derjenige ist, der den Vampyren ,,Wncherern« in die voin blutigen Schwei ße ihrer Nebenmenschen triefenden Hände fällt, eben so beinitleidenswerth sind die »nebich« vom Goldglanze geblendeten, von schurkischen Rechtsverdrehern irre geleiteten armen Kapitalisten bei ihrem leichten, reichliche Zinsen bringenden Gewerbe, denn sie verstricken sich mit der Zeit in ein Netz vrn gesetzwidrigen, hart an die Ein gangspforte des Kriminalgebäudes strei fenden Manipulationen, die die Ruhe aus ihrem-Gewissen und den nächtlichen Schlummer von ihren brennenden Augen bannen, und ich meine, solche Leute müs sen es doch zu jeder Zeit instinctiv ahnen, daß sie früher oder später- von ihrer ab schüssigen Lebensbahn mit ihren Opfern in den unvermeidlichen Abgrund rollen.«——— »Aber Hulda!« sagte jetzt lächelnd die von dieser Sprache etwas piquirte Martha, »Du sprichst ja, als wolltest Du Deinem Papa ins Handwerk pfuschen; wer hätte Dich nüchternes, kühl besonnenes Mäd-· chen mit den ernst blickenden, eisige Kälte ausströmenden grauen Augensternen für eine Schwärmerin halten sollen? Und doch scheinst Du ganz das Zeug dazu zu haben, in schwärmerische, weltverbessernde Hu manitäts-Dnselei, wie Dr. Presser, unser Rechtsanwalt sagt, zu verfallen; woher hast Du diese humanistischen Anwandluns gen? Sollten dies Symptome von Ner venschwäche sein? Du kannst wahrschein lich kein Blut sehen, und da Dir ein Paar blanke Zinsgnlden durchaus als mit blutijem Schweiße bedeckt erschei nen, entsetzest Du Dich vor diesem Bilde, das Deine erregte Mädchen Phantasie Dir vor die Sinne zaubert. Aber mein sonst so kluges Hündchen! lasse Dich nicht irre führen von der reli giösen SchwärmereiDeines mit Verlaub sehr unpraetischen Herrn Papa! — Sieh’ doch nur, Du holde Schwärmerin, »n e b i ch« (rvürde mein Vater sagen) — denn Du bist wahrlich mit Deinen alten hausbackenen Ansichten zu bedauern; — Alles auf der Welt treibt Wucher — die so edlen moralischen, Feldbau treiben den, sogenannten Oekonomen, was trei ben sie sonst als Wucher mit der Mutter Erde, die ihnen die paar Händeooll Ge treidekörner, die sie ihr anvertrauen, mit großem Wucherzinsen zurück geben muß ? » —- — Das Bischcn Liebe und Sorgfalt, das manche am alten Systeme fest hal tenden Eltern idoch nur bis.zum ersten Flüggewerden ihrer Kinder auf dieselben verwenden, müssen die Kinder es laut göttlichem und menschlichem Gebote nicht den Eltern für’s ganze Leben dann mit unendlichen, unberechbaren Wucherzinsen lohnen ? — Und alle die alten und nen eren, 1noraldm«chtränkten, human an gehanchten Schriften predigen sie nicht Alle: ,,Wohlthun trägt Zinsen!« — Und doch wird es Niemand einfallen, die jenigen, die viele Wohlthaten ausüben, um auch recht viele Zinsen einst einzu ? heimseu, darob öffentlich zu verdonnern, Joder gar mit verbrecherischen Gebahren jin Verbindung bringen zu wollen. — F Närrchen! iiberspanntes, exaltirtes Mäd tchenl ich begreife Dich heute gar nicht; i Du scheinst mir mit Deiner Humanitäts g schwiirmerei wirklich ein ,,Nebich« gewor I den zu sein; denn wer seine Zeit und ihre l Ansprüche an uns nicht zu begreifen und seinen materiellen Vortheil nicht aufs Beste zu fördern versteht, der ist, wie wir Juden sagen, heutzutage ein ,,R a ch monus,« und das Schicksal ruft ihm nichts als ein lautes »n e b i ch! n e b ich !« entgegen. Doch halt! da fällt mir etwas ein; Dir hat es vielleicht der junge, «sonderbare Schwärmer« Wanfried, un ser gewesener Gast, aus dem ich nicht recht klug wurde, und jetzt, wie ich höre, unter der Aegide Deine-Z Vaters hier he bräischen und Talmudstudien obliegt, ein wenig angethan, hat Dich wohl ange steckt mit seiner Schwärmerei für Men schenwohl und Hochherzigkeit. Der junge Mann scheint aus gutem Hause zu isein, wenigstens schien seine Cassa, so Tviel ich zu sehen Gelegenheit hatte, wohl gespickt, aber hüte Dich Huldchen! dem allerdings hübschen Manne zu tief in die seetiefen, dunkeln Augen zu schauen; nur keinen Schwärmer ! solche Menschen bie ten durchaus keine Garantie für die Zukunft.« »Aber — was faselst Du ! Martha ?« unterbrach sie Hulda erröthend; »der Ijunge Wanfried ist allerdings reicher El tern Kind, wie mein Papa sagt, und hat sich in der kurzen Zeit feines Hierseins und feines geistigen Verkehrs mit meinem lieben Papa feine und meine Achtung er worben: aber wenn auch unsere Lebens anschauung mitder seinigenübereinftimmt, hat er doch keinerlei Einfluß auf meine Gesinnung geübt, und zu einer Liebelei, wie Du meinst, hat weder er in seiner Biederkeit, noch ich in meiner Gesinnung bisher Anlaß gegeben, und werden es wohl auch in der Zukunft nicht. Nun sollst aber auch Du, Martha ! mir Rede stehen, was ist’s mit dem Wittwer Roth feld, dem Crösus unserer Gemeinde, den Du, wie man «sagt, heirathen sollst? Könntest Du Dich entschließen, seiner, mit Dir fast in gleichem Alter stehenden Tochter eine zweite Mutter zu werden ? Hast Du wirklich Nesignation genug, das Odium einer Stiefmutter auf Dich zu nehmen?« »So weit ists ja noch gar nicht,«— rief Martha, »Herr Rothfeld, der mit meinem Bruder Fritz, dem Banki er, dann und wann ein Geldgeschäft macht, hat bei ihm ungefragt, ob er bei, meinem Vater um meine Hand anhalten dürfe ; nun hat freilich der so reiche Rothfeld das Recht um ein anständiges Mädchen zu freien, und können es die Paar tau send Gulden, die mir mein Vater aller dings als Mitgift zu geben bereit ist, wahrlich nicht sein, nach deren Besitz Herr Rothfeld strebt, indem« er um mich freiet. Aber eben so sehr bin jedoch auch ich berechtigt, mit der anständigen Mit gift, die mir zukommen soll, auch auf einen jungen ledigen Mann An spruch zu machen. Rothfeld jedoch muß sich, wie tausend jun ge Leute, nicht erst eine Existenz gründen, er ist bereits ein reicher Mann. — — Daß ich die Stief mutter seiner erwachsenen Tochter werden soll. was ver chltigts ? Dem Vornrtheile der Welt gegen eine Stiefmutter stelle ich einfach meinen unerschütterlichen Gleich muth entgegen; ich will, wenn es wirk lich sein sollte, meine Stieftochter redlich mitgenießen lassen, was der Reichthum Rothfelds mir an Lebensgenüssen gewäh ren würde, sie soll es nicht fühlen, daß sie ;,,nebich« ein Stiefkind der zweiten IFrau ihres Vaters wäre, wenn wir nnr lallezeit reich bleiben nnd keine Stief Ikind er des launenhaften Glückes wer lden. Also bis jetzt, Huldchenl stehts inoch mit mir nnd Rothfeld eben so weit als mit Dir und Wanfried. Aber ehe ich nun von Dir gehe, möchte ich Dir, mein Püppchen, doch noch etwas insOhr, oder, da wir allein sind, nur recht leise sagen: Bruder Firtz ,der Bankier, ist Dir sehr, sehr gut; Hulda, Frttz macht « glänzende Geldgeschäfte —- er kann Dir, ; Halt ein Martha! kein Wort weiter! -Fritz ist, wenn Du ihn auch B a nkier Inennesh ein vom Dr. Presser dem Wu chergesch äfte zugeführter G e l d g e b e r —- — Nie! nie! — Bei unfe rer Freundschaft, Marthal beschwöre ich Dich, laß kein Wort in dieser Angelegen heit mehr zwischen uns laut werden.—« ,,Also nein! Du bist und bleibst ein un verbesserliches Närrchen,« sagte lachend d e muntere Martha, »für heute über-asse ich Dich Deinen schwärmerischen Alluren, Du armes, welwerbesserndes Wesen »nebich !« Gott schütze Dich ! Gute Nacht! — Mögen die Menschen Dir die volle heiße, unbegrenzte Liebe, die Du ihnen entgegenbringst, trotz Deiner Ab neigung gegen jedes Wuchergeschäst mit reichen Wucherzinsen ent gegenbringen.—-Adieu !« — (Fortsetzung folgt.) H--— Ricbts dazu uutl Riekts davon v oder: l Die drei Grundpscilcr der Religion. Gast-Predigt gehalten von Dr. K. Kohlck, am 29ten Juni 1878, vor der Tempel-Carolina-Gemeinde in New York. Einen Ruf vernehme ich aus diesem majestätischen Gotteshause, aus der ehren vollen Einladung, die mir geworden, vor dieser Gemeinde zu reden, wie aus den Tiefen meines bewegten Herzens: Imanu El — Mit uns ist Gott! Gott! ist der Gedanke, der uns alle beseelt. O, daß auch Gott mit inir sei, daß ich, wo so Viele mir lauschen, dem was in Allen lebt, den rechten Segensausdruck verleihe! Amen. Wie der Engel vor den Mauern Je richo s dem Jos s,ua naht heute der Zeit geist jedem Führer Israel s mit gezücktem Schwert m der Hand und drängt ihm die Frage auf: Gehörst du uns an oder unseren Geg nern? Er muß Stellung nehmen zu den großen Fragen der Zeit nnd zeigen, was der saftige Kern und was nur dürre Schale des Glaubens, was der ewige Stamm und was die wechselnde Blüthe und Blätterfülle des Lebensbaumes sei, an dessen Früchten die Menschheit sich la ben und unter dessen Schatten sie Ruhe und Obdach suchen kann. Wohlan! Lasset mich meine Betrach tung an zwei Bibelworte knüpfen, die sich wie Frage und Antwort zu einander ver halten: Das eine, aus Deuteron. 4, 2, lautet: »Ihr sollt nichts hinzu fügen zu dem Worte, das ich euch beschle, noch etwas davon hin w e gn e h m e n.« Das andere, aus Jesaj. 51, 16, lautet: »Ich h ab e meine Worte iu deinen Mund gelegt und mit dem Schatten meiner Hand dich geborgen, um die Himmel zu pflanzen, »die Erde zu gründen und zu JZion zu sprechen: Mein Volk Jbist du !« — i Fiassen wir den ersteren Bibelvers in s einer oberflächlichen Bedeutung, wie ihn Hdas orthodoxe Gesetzesjudenthum wirklich i Jahrhunderte lang verstanden wissen iwollte, so steht er in vollem Widerspruch imit allen unseren Anschauungen und Be strebungen. Ihut nichts hinzu zu dem, l nichts davon von dem, zvas Gott im Ge setzesbuche und im Herkommen einmal niedergelegt hat! Heißt das nicht, daß die Lehre Gottes unverkürzt und unver ändert unter allen Verhältnissen der Zeiten und der Menschen dieselbe bleiben müßte? Jst damit nicht jedem Fortschritt ein Damm gefetzt, nicht jedem Versuch der Neugestaltung und Verjüngung der Religion ein Halt geboten? Jn Hans Zone-j, dem Lustschloß Friedrichs des Großen, seigt man noch heute das Zim Jmer mit der ganzen Einrichtung, wie sie izur Zeit des großen Königs bestand, den Lehnsessel, auf dem er zu ruhen pflegte, den Stock und den Hut, den er trug, die Schmucksachen, die er darin aufgestellt hatte, Alles in unveränderter Lage, als ob der Längstverblichene noch darin weilte. Aber das Leben ist aus dem Zimmer gewi chen; der Zahn der Zeit hat genagt an all’ den festgebannten Erinnerungen ehemali \n\n — הלנו אתה אם לצרנו