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The Jewish advance. (Chicago, Ill.) 1878-1881, November 08, 1878, Image 6

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. D s
gnmon Yedmg
Erzählung aus dem Anfang des neunzehnten
Jahrhundeer
(Fortset51111g.)
Vor allem wollte sich nun Reding um
eine Wohnung umsehen, wo er des Nachts
sein Haupt zur Ruhe legen konnte, aber
auch hier machte er traurige Erfahrungen.
Er frng bei drei armen Leuten an, die
Afteriniether in ihre Wohnungen einzu
nehmen pflegten, die ersten zwei wiesen ihn
unter Vorwänden ab, der dritte erklärte
ihm offen, daß er einen »Gannow« nicht
als Hausgenossen aufnehmen wolle. .
Jn voller Verzweiflung, halb wahnsinnig,
eilte er hinaus aus dein Ghetto nnd noch
weiter hinaus vor die Thore der Stadt
und ging planlos krenz und quer bis ihn
die anbrechende Dämmeng daran ge
mahnte, daß es jetzt Zeit fei, ins Gottes
haus zum Abendgebete zu gehen. Praa
besaß nnd besitzt noch neun große nnd
viele kleine Synagogen Reding sehnte
sich aus voller Seele darnach, wieder ein
mal an einem allgemeinen Gottesdienste
Theil nehmen zu können, einen geistigen,
seeligen Genuß, den er nun durch weit
mehr als sieben Jahre entbehrt hatte. Er
dachte nur darüber nach ob er eine große
Shnagoge oder eine kleine »Schul, " so
nennt man in Prag die Gotteshänser, be
suchen sollte. Jn erstere: konnten ihm
mehrere Bekannte begegnen, dagegen war
es ihm in einem großen Raum leichter,"
unbemerkt zu bleiben, — nach kurzem Be
denken entschloß er sich fiir die Meisel
Synagoge ..... Ein wehmiithig-freudiges
Gefühl erfaßte ihn, als er das schöne
Gotteshaus betrat; —- aber er wagte es
nicht weit vorzudringen, er blieb iu der
nur halb erleuchteten Vorhalle stehen.
Viele schritten an ihm vorüber-, ohne ihn
zu beachten, endlich kamen zwei Männer
— Winterthal hießen sie — Vater und
Sohn, ·—— ol er kannte sie beide, sie wa
ren mit Zadok Erd1nann, dessen Buch
hnlter er gewesen, lange Zeit in Geschäfts
verbindung gestanden, der jüngere, der
Sohn stieß unversehens an ihn an, so daß
der rasch sein Gesicht der Mauer zuge
wendet hatte, sich unwillkürlich umwandte,
der Mann sah ihm einen Augenblick in s
Gesicht und einer früheren langjährigen
Gewohnheit folgend, rief er: »Ich irre
mich doch nicht, Herr Reding2 Guten
Jomtoivl « Aber der Vater ließ ein Ge
spräch nicht aufkommen, riß den Sohn
hastig am Arme fort und aus den zwischen
Beiden halblaut geflii1«te1te11"L-«orteit tönte
es herz zerreißend an Redings Ohr:
»Bist Du verrückt, daß Du Dich mit
dem Gannow in ein Gespräch einlassen
willst?« und die Antwort: »Ich war so
überrascht, ich hab’ im ersten Augenblick
wie an den Tod vergessen.«
Das Gotteshaus war mit Menschen
angefüllt, mit Kränzen und Blumenguir
landen festlich ausgeschmückt, die an den
Almemmor 1)-Säulen und an den kunst
reich gearbeiteten Messinglampen, die von
der hohen Decke niederhingen, angebracht
waren, der weite Raum war herrlich er
leuchtet-, der Fußboden war mit duftenden
Kräutern und mit Kalmus bestreut. Man
wartete am ersten Schowuosabende nach
rabbinischen Bestimmungen bis die Nacht
vollständig angebrachen, dann begann der
Chasan 2) mit seinen Meschoreri1113) das
Maariwgebet 4) ; Reding war tief ergriffen
als er wieder nach einer langen Reihe von
Jahren gemeinschaftlich mit seinen Glau
bensgenossen sein Gebet zum Allvater
· emporsteigen ließ und für kurze Zeit zog
wieder Ruhe und Friede in seine grant
zerwühlte Seele, —- aber dieser Zustand
der Beruhigung sollte nicht lange anhal
ten! Als der Gottesdieust beendet war
und die zahlreichen Beter aus der Sym
goge, nach Hause, zu ihrer Familie, zu
ihren Angehörigen in ein wohlerleuchtetes
Zimmer, zu einer wohlbesetzten Tafel eil
ten, fühlte er es wieder mit entsetzlichem
Drucke, daß er —- auch in der Hei
math, fremd und heimathlos
— mehr als das, o b d a ch l o s war!
Es hatten sich in der Vorhalle mehrere
fremde durchreisende arme Leute aufge
Y stellt, die von wohlhabenden oder auch nur
iwohlthiitigen Familienvätern eingeladen
wurden, mit nach Hause-, zu Tische zu
kommen Reding fühlte tiefes Mitleid
mit sich, er, der früher stolz, wenn auch
nie hochmüthig gewesen, der an seiner
Mutter Tische selbst oft arme fremde
Durchreisende gesehen, wäre jetzt über
glücklich gewesen, wenn ihn Jemand —
und wäre es auch der Aermste gewesen,
zu einem dürftigen Mahle geladen hätte;
aber Alle gingen schweigend an ihm
vorüber! — Es war gar nicht denkbar,
daß nicht wenigstens-Einige Simon Reding
erkannt hatten; —- als er, der Letzte,
gramgebengt ans dem Gotteshause wankte,
fivar es ihm vollkommen zweifellos: er
iwar in seiner Vaterstadt ein verachteter,
iverfehmter, ausgestoßener Mann, und
wenn der allgütige Gott in seiner All
macht nicht ein Wunder that — war es
ihm nicht möglich, die verlorene Achtung
wieder zu gewinnen!
Wieder stand er rathlos vordem schönen
nun geschlossenen Gotteshause — er hatte
keinen Ort, sein müdes Haupt niederzu
legen — in einem Momente wild über-s
strömender Bitterkeit, glaubte er noch weit !
weniger unglücklich gewesen zu sein, als
er im Kerker in Ketten geschmachtet hatte
— da war er wenigstens sorgenlos gewe
sen, da hatte seine Phantasie —- der hatte
man keine Fesseln anzulegen vermocht —
sich in erpansiver Hoffnungsseligkeit den
Moment der wiedergewonnenen Freiheit
mit wunderbar schönen Farben ausmalen
können, —- und nun, da der lang ersehnte
Moment da war —- glaubte er —- vielleicht
mit vollem Rechte — der Ungliicklichste,
der Verlassenste auf Gottes weiter Erde
zu sein!
-(Fortsetzung folgt.)
l) Tribnne in Der Mitte des Gotteshause-T auf wel
cher die Txhom ver-lesen wird.
2 Vol-beten
3) Sänger, Chorisien.
4) Abendgebet.
V
Consequenz, Schmini-lecroth-Predigt
von »Liebqu Floko Chicagm
Wir wählen zum Text unserer heutigen
Betrachtung Koheleth 11, 6—9. »Am
,,Morgen streue deinen Samen und auch
,,am Abende laß deine Hände nicht ruhen.
»Du kannst nicht wissen, welche Aussaat
»die rechte ist, und ob nicht beide gut
,,seien. Und süß ist das Licht, und gut für
»die Augen, die Sonne zu sehn. So viele
,,Jahre der Mensch auch lebt, er freue sich
,,mit allen, eingedenk der Tage der Fin
,,sterniß, deren noch viele sein werden.«
Man hat vielfach versucht, für den Be
griff Tugend die beste Definition aufzu
stellen. Consequenz :«Handle consequent! -
meinen Einige, das sage Alles, was die
Tugend verlangt. Denn nur im Guten
vermögen wir consequent zu leben. So
kann man eonsequent sein in der Wahr
heit. Man kann Wahrheit zur Regel
seines Lebens machen. So auch die Ehr
lichkeit, Gerechtigkeit, Fleiß, Ordnung,
Miißigkeit, Liebe und Treue. Aber nicht
das Gegentheil derselben. Der ärgste
Lügner kann doch nicht die Unwahrheit zur
Regel seines Lebens machen. So ist es
mit der Unehrlichkeit, mit der Unordnung.
Es kann auch Niemand die Unmäßigkeit
und Trägheit zum Prinzipe seines Lebens
machen, oder den Menschenhaß und die
Treulosigkeit. Freilich, auch eine voll
kommene Conseqnenz im Guten ist nir
gends zu finden. Allein es giebt ja auch
keine vollkommene Tugend. Der Mensch
ist nicht vollkommen tugendhaft, weil er
nicht vollkommen eonsequent ist in seinem
Fühlen, Denken und Handeln. Mag es
nun auch für Tugend bessere Definitionen
geben, wahr bleibt doch, daß Consequenz
eine Tugend ist, und daß es sich mit der
Tugend am Consequentesten leben läßt.
Wenn Tugend und Consequenz, wenn
auch nicht eins und dasselbe, doch jeden
ifalls mit einander in inniger Beziehung
stehen; so sollte man glauben, daß in dem
sTugenhaften jedeFortentwickelung, auch
Zzum Bessern, als eine Jnconsequen»-, anf
jhören müsse. Und in der That, wir be
jgegnen in uns und Andern, die Carise
quenz als einen Stein des Anftoßes auf
dein Wege der Besserung des Schlimmen
zum Gnteu, nnd des Guten zum Bessern.
So Manchem dämmert die Wahrheit ins
Bewußtsein hinein: Du bist nicht auf
rechtem Wege ; wie wärs mit dem Versuche
eines Bessern. Allein die Scheu vor Jn
consequenz treibt immer weiter un-) weiter
in derselben Richtung. So Mancher, der
jahrelang in Freigeisterei gedacht, gelebt
nnd sein Haus geführt bis fast zur Ver
gessenheit des Glaubens seiner Väter,
wird von dem Gefühle der Reue beschlichen,
daß er es soweit hat kommen lassen; allein
die Consequenz verscheucht jeden ernstlichen
Gedanken an Umkehr ——Nicht selten hört ;
man: Was? du reißest, brichst, ««anfsts
und verkanfst am Sabbath, und den’
Sabbath - Gottegdienst besuchst du -—
welche Jneonsequenzl Nach der Meinung
dieses Fragenden wäre Conseqnenz im
Unrecht besser als Ineonsequenz. — Ehe
leute, die im Grunde ihres Herzens sich
lieben, erschweren ihre Versöhnung in
Streitigkeiten, weil Jedes sich consequent
bleiben will. Sie ziehen es vor, in Con
sequenz unglücklich zu leben, als in Jn
consequenz glücklich.
Mancher riihmt sich auch: Jch bin noch
derselbe, wie vor 25 Jahren, ich bleibe
mir consequent! Welch ein trauriger
Ruhm, in einem solchen Zeitraum nichts
gelernt nnd nichts vergessen zu haben!
Diesen ruft unser Text zu:
,,Strcue deine s
Saat am Morgen nnd auch Abends laß
deine Hände nicht ruhen.« —- Vcanüge
dich nicht mit einer Geistesausfaat um
die ganze Lebenszeit nur von dieser e in e n
Aussaat zu ernten. Man säet zwar nicht
vor jeder Mahlzeit; man lebt viele Tage
und genießt viele Mahlzeiten von ein er
Ernte. So ändert nnd wechselt man auch
nicht seine Maximen und Prinzipien mit
den Stunden, den Tagen, nach augen
blicklicher Eingebung der Seele und mit
dein lockenden Nutzen des Augenblicks
Ein Lebenszprincip muß lange Stand hal
ten, bis man Etwas daran ändere oder
gar ganz aufgebe. Aber man lebt auch
nicht zeitlebens von eine r Ernte. Jedes
Jahr hat eine neue Aussaat So dürfen
wir unsere Lebensmarimen auch nicht ein
für alle Mal abschließen fürs ganze Leben
und sprechen: Das ist einmal mein Prin
zip, da ist nichts mehr daran zu ändern
und zu bessern. »Am Morgen streue deine
Saat und lege auch Abends deine Hände
nicht müßig in den Schooß.« —
Mit den Jahren wird der Körper des
Menschen, wie alles Körperliche abgenutzt
und hinfällig und mit dem wird auch
der Geist matt und müde. Wir lassen
gerne Andere, Jüngere für uns arbeiten
und sich anstrengen. Wir sind zufrieden,
wenn eine Arbeit einmal gethan ist,
wenn auch unvollkommen. Der Conser
vatismus des Alters ist oft weiter nichts
als die Mattigkeit des Alters und in Folge
derselben die Scheu, einen neuen Denk
prozeß zu beginnen, Und in eine nenez
sGeistesarbeit sich einzulassen. Kohelethi
fordert in unserm Texte, die Geistesfrische
auch im Alter uns zn bewahren; unsern
Geist nicht mit dem Körper matt und
schlaff werden zu lassen. Der unsterbliche
Geist soll nicht mit dem alternden Körper
siechend nnd zitternd dem Grabe zufchwan
ken. Jm Gegentheile, im Greise soll der
Geist erst seine rechte Reife und volle
Kraft erlangen.
Oft hat der Conservatismus des Alters
auch seinen Grund in der lieben Rück
erinnerung der entflohenen Jugendzeit.
Alles fliegt dahin, die Jugend selbst und
was in ihr mit uns gelebt hat; immer
einsamer wird es um uns hernni. Die
Erinnerung aber bleibt uns immer treu
zur Seite. Und was diese treue Freundin
in sich bewahrt, das schmeichelt sich in un
ser Urtheil ein als gut, als das möglichst
!Beste. Allein
Laß dich nicht von Sentimen
talität beherrschen in deinem Urtheil.
Manches, was dir in Erinnerung theuer
ist, mag in einer neuen Aussaat über
ltroffen werden·
i Die Mahnung, die unser Text bietet,
fist aber nicht blos an das Alter gerichtet,
ifondern auch an die Jugend. Die Jugend
Eist nur zu sehr geneigt, das Alter für Uch
denken zu lassen und dafür die sinnlichen
Genüsse für sich zu beanspruchen; die Lei
tung des höheren geistigen Lebens, die
höchsten Lebensfragen, als eine Sache,
die sich anfschieben läßt auf das Miste
Alter gesättigten Siniiengeiitisfes. Die
Jugend ist nur zu sehr geneigt, alle-Z
Ernste und tiefer nnd weiter Greifeude in
der moralischen nnd intellectuellen Welt
aufzuschieben für eine passende Zeit. Die
Jugend ist auch nur zu geneigt, schon in
der Jugend zu ernten und nicht, miil)evoll,
eine Aussaat zu streuen für eine Ernte
der Zukunft. Sie läßt gern die Alten
für sich ackern nnd säen und nur das Ern
ten möchten sie selbst besorgen. O, wer
die Morgenaussaat versäumt, für den
giebt es keine Ausfaat mehr.
Es ist nichts natürlicher als der Wider
streit in den Ansichten des Alters und der
Jugend auf allen Feldern der Jdeensaat.
Auf der einen Seite der müde, matte, nach
Ruhe sich sehneude, auf der andern der
frische, frohe, kräftige, nachW echsel stre
bende Theil. Sie leben in ein er Welt;
sie sollen ein Ganzes ausmachen. Wie
sollte da kein Widerstreit entstehen! Es
darf uns nicht irre machen, wenn wir
Greise bei wechselnder Aussaat derJuaend
und junge Männer iin Lager des Behar
reus bei der alten Aussaat finden. Es
gibt junge Greise und greisekL stinglinge;
Jünglinge mit alteni Köpfen nnd Gieise
mit jugendlich warmen Herzen Wie ein
förinig, langweilig, ja wie bald faul und
verstunpft Ware das Leben, wenn nicht die
Natur für die Bewegung, die zwischen
Alter und Jugend, Progreß und Conser
vatismus, gesorgt hätte. Das Alter sieht
freilich lauter Unheil in der fröhlichen
Saat der Jugend und denkt: Wie wird
das aussehen, wenn wir einmal nichtmehr
da sind, und über unsern Gräbern diese
Saat aufgeht und Früchte trägt! Ein
alter Weiser sagt: Das Einreißen der
Alten ist Bauen, das Bauen der Jugend
ist Einreißen. Und die Jugend denkt:
das muß Alles anders werden; die ganze
alte Saat ist Unkraut; wir müssen eine
neue Saat streuen. So ists Recht, so
will es die Weltordnung. Säet Morgens
und säet Aka1ds. Jugend, versuche du
deine Kraft und Greis, nimm du noch ein
mal die Saat in deine erfahreue Hand:
, ,Man kann
,,nicht wissen, welche von Beiden die rechte
»ist, nnd vielleicht sind es Beide«
Und es ist genau betrachtet, nichtimmer
Altgedachtes, was den Alten so sehr mn
Herzen liegt nun nicht Neugedachtes, was
die Jugend begeistert. Was wollen die
Alten eonfervirenL2 Was sie aus ihrer
Jugend mit ins Alter gebracht haben.
Das Alter liebt im Grunde nur das Den
ken und Thun seiner Jugend. Und wie
derum sind die Gedanken, für welche die
Jugend schwärmt und zu Thaten aussäet,
selten auch in einem jugendlichen Gehirn
entstanden. Ideen, die die Alten gedacht,
die gber ins Leben einzuführen sie sich die
Kraft nicht zutraueten, oder im Erwägen
der Störungen und Verwirrungen, die
eine neue Saat der Wahrheit im Gefolge
hat, denken: Wir wollens doch lieber beim
Alten lassen. Diese Jdeen sind es, die
die Jugend von den Lippen oder aus den
Schriften der Weisen nehmen und im
jugendlichen Muthe, über alle Bedenklich
fleiten fsich hinwegsetzend, als neue Saat
! in die Gesellschaft·stregen; —
,,Siiß ist
das Licht, und wohlthuend den Augen ist
die Sonne.«
Des Säuglings Aeuglein sucht schon
das Licht. Es wird nicht müde, Ins Licht

S. Kotin

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